Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: Vom Schweigen zum Handeln
Das Risiko sexuell belästigt zu werden, ist für Pflegefachpersonen erschreckend hoch. Eine aktuelle Studie zeigt das Ausmass dieser Übergriffe, zu deren Verhinderung und Sanktionierung die Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet sind. Die junge Generation, die am stärksten gefährdet ist, sollte besser gegen Übergriffe gewappnet werden.
Text: Florence Michel / Bilder: 123rf / zVg / Max Spring
Milena Bruschini erinnert sich noch genau daran: Sie ist 14 Jahre alt, und es ist der Tag, an dem sie in einem Pflegeheim schnuppert. «Ich war allein, um einen Bewohner im Rollstuhl in sein Zimmer zu bringen. Da er selbst aufstehen konnte, setzte er sich auf sein Bett und streckte mir dann eine Hand entgegen. Ich dachte, er wolle sich bedanken, also nahm ich seine Hand. In diesem Moment zog er mich an sich, umarmte und küsste mich. Aus Reflex schob ich ihn weg und verliess das Zimmer. Ich nahm all meinen Mut zusammen und erzählte der Pflegefachfrau davon, die mich durch den Tag begleitete. Sie sagte: ‹Ja ... aber weisst du, er hat es nicht böse gemeint, er wollte nur seine Dankbarkeit ausdrücken.› Sie spielte es herunter – und ich fühlte mich ein zweites Mal verletzt.»
Diese schwierige Erfahrung als Teenager fällt unter die Definition von sexueller Belästigung. Sie hat die mittlerweile 28-jährige Milena Bruschini tief geprägt. Sie ist heute wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), wo sie den Bachelor in Pflege (2020) und anschliessend den Master (2022) absolviert hat.
Das Risiko einer sexuellen Belästigung durch zu pflegende Personen – ist in den Gesundheitsberufen, die mit grosser körperlicher und emotionaler Nähe verbunden sind, besonders hoch. Manche Menschen finden dort Gelegenheit für vielfältige Formen des Missbrauchs. Im Frühling 2023 berichteten die Medien ausführlich über die Ergebnisse der von Milena Bruschini durchgeführten Studie «Sexuelle Belästigung von Pflegefachpersonen und Pflegestudierende durch Patienten: eine Querschnittsstudie»*. Die Ergebnisse sind erschreckend: 95,6 Prozent der Befragten im Alter von 18 bis 58 Jahren (Durchschnittsalter 25,5 Jahre) waren in den 12 Monaten vor der Befragung Opfer sexueller Belästigung oder sexueller Übergriffe durch Patienten geworden. Die Daten von 251 Pflegefachpersonen, von denen mehr als die Hälfte in der Akutversorgung von Erwachsenen tätig waren, wurden mithilfe eines Online-Fragebogens erhoben.
Diese Zahlen sind deutlich höher als bei ähnlichen Umfragen. Milena Bruschini erklärt das damit, dass in diesen häufig das gesamte Gesundheitspersonal befragt wird. In ihrer auf die Pflege ausgerichteten Umfrage wurde das Vorkommen von sexueller Belästigung nicht nur mit «ja» oder «nein» abgefragt, sondern es wurden konkrete Verhaltensweisen genannt, die auf Belästigung hindeuten könnten: «Hat Ihnen jemand ein sexuelles Kompliment gemacht?» oder «Hat Sie jemand auf eine Weise berührt, die Ihnen nicht angemessen erschien?». Das hat den Vorteil, dass die Betroffenen eine Verhaltensweise nicht selbst als sexuelle Belästigung benennen müssen, damit sie erkannt wird.
«Jede und jeder muss darüber reden!»
Am häufigsten kommt verbale sexuelle Belästigung vor, gefolgt von nonverbaler und körperlicher sexueller Belästigung. Besorgniserregend ist, dass mehr als zwei Drittel der Befragten körperliche Angriffe erlebt haben.
Je jünger sie sind, desto häufiger werden sie sexuell belästigt: Sie werden umarmt, auf unangenehme und sexualisierte Weise gestreichelt oder begrapscht, ungewollt geküsst oder an Stellen berührt, die ihnen unangenehm sind. Auch Pflegefachmänner (11,2 der Befragten) sind sexueller Belästigung ausgesetzt. Wie Milena Bruschini betont, haben solche Vorfälle nachweislich negative Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der Opfer, auf die Institution (Arbeitsmotivation, Krankschreibung, Kündigung) und auf die Qualität der Versorgung der Patient:innen. Die Aufgabe des Berufs und eine verminderte Arbeitsleistung sind keine Seltenheit.
Im Mai 2024 stellte Milena Bruschini ihre Studie am Schweizer Pflegekongress vor. Die Präsentation erhielt viel Beifall. «Ich hatte viele schöne Gespräche mit Pflegefachpersonen. Sie waren froh, dass sich jemand für diese seit langem bekannte, weit verbreitete, aber immer noch zu wenig behandelte Problematik interessierte. Die Sensibilisierung ist das Erste, was wir verbessern müssen. Alle müssen darüber reden! Die Pflegefachpersonen müssen verstehen, dass sexuelle Belästigung nicht zum Berufsalltag gehört und dass man sich unbedingt dagegen wehren muss», sagt Milena Bruschini.
In ihrer Studie gaben jedoch nur 17 Prozent der Befragten an, eine Schulung zum Thema erhalten zu haben. «Das heisst, dass regelmässige Kurse zum Thema sexuelle Belästigung in Pflegeeinrichtungen von entscheidender Bedeutung sind. Das Phänomen sollte in den Grundausbildungen thematisiert werden. Darüber hinaus ermöglicht die aktive Auseinandersetzung mit sexueller Belästigung die Entwicklung einer Null-Toleranz-Politik gegen Missbrauch am Arbeitsplatz.»
Arbeitgebende in der Schweiz sind gesetzlich dazu verpflichtet, Massnahmen zum Schutz des Personals zu ergreifen. In den letzten Jahren wurden je nach Institution und Unternehmen zahlreiche spezifische Instrumente geschaffen. Der SBK war übrigens ein Pionier in diesem Bereich, als er 2009 seine Broschüre «Verstehen Sie keinen Spass, Schwester?» veröffentlichte, die in Partnerschaft mit den Arbeitgeberverbänden H+, Curaviva, ASPS, Spitex Schweiz, senesuisse und mit dem Schweizerischen Hebammenverband erarbeitet wurde. «Das Wichtigste», so Pierre-André Wagner, Leiter des Rechtsdiensts des SBK, «ist, dass man darüber spricht und dass man den Personen, die darüber sprechen, zuhört, sie ernst nimmt und sie unterstützt.»
Im Dilemma zwischen Anklage und Verharmlosung
Die Enttabuisierung ist in vollem Gang. Die Bewegungen #MeToo und #EndNurseAbuse, die 2017/18 ihren Anfang nahmen, haben die Aufmerksamkeit auch auf das Problem der sexuellen Belästigung von Pflegenden am Arbeitsplatz gelenkt, sowohl in der Schweiz als auch weltweit», sagt Milena Bruschini. «Seither wurden einige Fortschritte bei der Sensibilisierung erzielt. Ich denke, dass die jüngere Generation der Pflegenden sich bewusst ist, dass sexuelle Belästigung nicht hingenommen werden muss. Sie ist eher bereit, sie zu erkennen und zu melden. Man kann nicht mehr von einem Gesetz des Schweigens sprechen, wie bei den früheren Generationen.»
Aber ein Dilemma bleibt: «Pflegende sind von dieser Philosophie der Pflege geprägt, die darin besteht, Gutes zu tun und nicht Schlechtes. Das Melden von unangebrachten Handlungen durch Patient:innen kann sich als schwierig erweisen». Milena Bruschini stellt fest, dass sexuelle Belästigung oft verharmlost wird – sei es von den Kolleg:innen oder von den Vorgesetzten –, was die belästigende Person schützt. «Wenn die Kolleg:innen nicht anerkennen, dass man belästigt wurde, verliert man den Mut und sagt beim nächsten Mal nichts.» Das gilt umso mehr, als die Opfer von Scham- oder Schuldgefühlen (ein bekanntes Phänomen) und oft auch von Angst gelähmt sein können, insbesondere von der Angst, als «mühsame Mitarbeitende» abgestempelt zu werden oder gar den Arbeitsplatz zu verlieren. «Mit der Zeit», stellt Milena Bruschini fest, «werden viele Pflegefachpersonen härter und entwickeln Strategien, um mit solchen Situationen und anderen Schwierigkeiten des Berufs umzugehen.»
Sensibilisierung und Aufklärung über sexuelle Belästigung sind auch auf der Seite der Patient:innen notwendig, sagt Milena Bruschini. «Damit ein Arbeitsumfeld respektvoll und gewaltfrei werden kann, müssen sowohl das Pflegepersonal als auch die Patient:innen verstehen, dass solche Verhaltensweisen nicht toleriert werden und dass die Nichtbeachtung Konsequenzen haben wird. Ich habe schon von praktischen Beispielen mit Schildern ‹Gewaltfreie Zone› gehört. Eine weitere Idee wäre, die Patient:innen bei ihrem Eintritt nicht nur über ihre Rechte, sondern auch über ihre Pflichten in der Zusammenarbeit mit den Angehörigen der Gesundheitsberufe zu informieren.»
«Wenn wir sie nicht unterstützen, wird sie gehen»
«Die Bekämpfung von sexueller Gewalt im Gesundheitswesen ist nicht nur eine gesetzliche Pflicht, sondern auch zentral, um eine hohe Qualität der Pflege zu gewährleisten und die Fachkräfte langfristig zu halten und zufrieden zu stellen», sagt Aner Voloder, Jurist und Gründer der Deutschschweizer Plattform belaestigt.ch. Die Plattform widmet sich seit 2017 im Auftrag des Gleichstellungsbüros der Stadt Zürich branchenübergreifend der Unterstützung von Personen, die am Arbeitsplatz sexuell belästigt werden. Der SBK ist eine der Trägerorganisationen. Neben wertvollen Ressourcen bietet ein Kontaktformular die Möglichkeit, anonym eine Anfrage zu stellen. Das mehrsprachige Team leitet die Person dann an die richtige Beratungsstelle weiter.
Von den rund hundert Anfragen, die jährlich eingehen, stammt ein Fünftel aus dem Gesundheitssektor, einschliesslich der Pflege. «Die Plattform ist anonym, weil wir festgestellt haben, dass viele Menschen, vor allem Frauen, oft aus Scham nicht über Belästigung sprechen wollen oder können. Wir ermöglichen es ihnen also zu schreiben», erklärt Aner Voloder. Die Zahl der Anfragen hat sich seit der Pandemie verdreifacht: «#Metoo hat die Gesellschaft sensibilisiert. Die Betroffenen wollen nicht mehr schweigen. Sie wollen, dass es Konsequenzen gibt, auch die Personalabteilungen, besonders in Zeiten des Personalmangels. Wir können es uns nicht leisten, eine Pflegefachfrau zu verlieren, weil sie belästigt wurde. Wenn wir sie nicht unterstützen, wird sie gehen.» Die Mentalität ändere sich, «aber ich treffe immer noch Frauen, vor allem Ausländerinnen, die denken, dass es zum Beruf gehört, und die Angst haben, den Job zu verlieren oder als ‹zu sensibel› zu gelten.»
Jede und jeder hat das Recht, vom Arbeitgeber geschützt zu werden, aber sie oder er muss auch wissen, was passiert ist. «Wenn es sich beim Belästiger um einen Kollegen handelt, ist es einfacher, eine Strafe zu verhängen, als wenn es sich um einen Patienten oder eine Klientin handelt. Aber in jedem Fall gibt es einen Vertrag zwischen Patientin/Klient und der Institution, und beide Parteien sind dafür verantwortlich, ihn einzuhalten. Es gibt Sanktionen: Androhung des Ausschlusses oder sogar Ausschluss, Einreichung einer Klage – ich kenne Fälle – Hausverbot. Es muss eine angemessene Lösung gefunden werden.»
«Schnelle und entschlossene Reaktion»
Als junge diplomierte Pflegefachfrau am Institut und Fachhochschule Gesundheit La Source in Lausanne hatte sich Alexandra Yosef 2019 im Auftrag der Schulgremien für die Gründung eines Studierendenkollektivs gegen sexuelle Belästigung eingesetzt. «Wir haben das Thema erarbeitet, weiterentwickelt und einen Kurs für Studierende im dritten Studienjahr durchgeführt.» Heute ist Alexandra Yosef bei den Genfer Universitätskliniken (HUG) angestellt und schätzt die Null-Toleranz-Politik der Institution gegenüber Gewalt und Diskriminierung. «Wenn die Führungspersonen, wie ich es kürzlich erlebt habe, schnell und entschlossen auf einen belästigenden Patienten reagieren, fühlt sich eine Mitarbeiterin unterstützt, das ist sehr wichtig».
Milena Bruschini hat 2023 den ersten Platz des «SDG Awards» der ZHAW für die besten Diplomarbeiten erhalten: «Ihre Arbeit hat eine wichtige Grundlage geschaffen, um die Gesundheit des Pflegepersonals gemäss Ziel 3 der Ziele für nachhaltige Entwicklung zu fördern und die Gleichstellung der Geschlechter gemäss Ziel 5 zu erreichen».
Die Studie kann (auf Englisch) kann per Mail bei brss@zhaw.ch angefordert oder heruntergeladen werden: https://doi.org/10.1016/j.ijnsa.2023.100121
«Verstehen Sie keinen Spass, Schwester?»
«Nicht die Fachperson, sondern das Sexualobjekt»
«Heute Nacht im Traum waren Sie bei mir im Bett – oben ohne » So begrüsst eines Morgens ein junger Patient die Pflegeassistentin. Sie ist sprachlos und kann nicht reagieren. Später sagt sie: «Ich hatte eine Riesenwut!» Pierre-André Wagner, Pflegefachmann und leitender Jurist des Rechtsdiensts des SBK, zitiert diesen Fall von sexueller Belästigung in seinem Vorwort zur Broschüre «Verstehen Sie keinen Spass, Schwester?». Viele Frauen würden am Arbeitsplatz nicht in erster Linie Opfer von Kollegen sexuell belästigt, sondern von Patienten, Kunden oder Lieferanten. Dank der finanziellen Unterstützung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) konnte er die Idee einer SBK-Broschüre gegen dieses giftige Tabu 2009 verwirklichen. Sie richtet sich an alle Pflegenden und ist kostenlos in drei Sprachen erhältlich. Die Broschüre stösst auf viel Resonanz. Rund 150 00 gedruckte Exemplare wurden verschickt, u. . an Personalverantwortliche und Schulen.
Darin finden sich Berichte wie dieser: «Im Vierbettzimmer war die Atmosphäre aufgeheizt. Ich machte meine Arbeit konzentriert und ziemlich kurz angebunden. ‹Sie sind so streng zu uns, Carmen›, sagte einer der Männer, ‹eine richtige Domina!›. Brüllendes Gelächter.» Eine freiberufliche Pflegefachfrau erzählt: «Ich betreute seit Jahren einen ganz charmanten alten Mann. Als sich der Wechsel ins Heim abzeichnete, fing er an zu drängen: Einmal wolle er noch Sex mit einer Frau. Das sei sein grösster Wunsch. Bei jedem Besuch kam er damit.»
«Sexuelle Belästigung», so Pierre-André Wagner, «entsteht aus dem Machtverhältnis, das durch die patriarchal geprägte Gesellschaft hervorgerufen wird. Die Übergriffe stellen die Zielperson grundsätzlich in Frage: Der Täter sieht in ihr nicht die Fachperson, sondern das Sexualobjekt. Pflegefachpersonen sind sehr gefährdet, ebenso wie andere Personen, die in engem Kontakt mit einer riskanten Klientel stehen. Junge Frauen, die sich für einen Pflegeberuf entscheiden, weil sie Gutes tun wollen, müssen – schmerzlich – feststellen, dass ihre Position missbraucht wird, und sehen sich mit allen Arten von Übergriffen konfrontiert. Es ist ein äusserst beunruhigendes Phänomen, dass helfende Berufe – Gesundheitsfachpersonen, Polizistinnen, Feuerwehrleute – angegriffen werden.»
Die Broschüre vertieft die Facetten von sexueller Belästigung und beleuchtet ohne Umschweife sowohl die psychologischen Mechanismen der belästigenden Person in bestimmten Situationen als auch etwa die Besonderheiten der Sexualität älterer Menschen. Sie bietet eine reiche Palette an Hilfsmitteln, um drei Ziele zu erreichen: Die Menschen im Gesundheitswesen setzen sich mit dem Thema auseinander, kennen ihre Rechte und wissen sich zu wehren.
Hier können Sie die Broschüre «Verstehen Sie keinen Spass, Schwester?» bestellen oder herunterladen: https://sbk-asi.ch/de/sbk/shop/sbk-publikationen/show/verstehen-sie-keinen-spass-schwester