
Temporäre: Es kommt Licht ins Dunkel
Sind temporäre Pflegende eine Entlastung oder eher das Gegenteil? Die «CroWiS»-Studie hat das Thema erstmals wissenschaftlich untersucht. Weil die Datenlage mager ist, sind repräsentative Aussagen nicht möglich. Dennoch erlaubt CroWiS wichtige Einsichten, und auch Handlungsempfehlungen werden formuliert. Sie nehmen nicht zuletzt das Spitalmanagement in die Pflicht.
Text: Martina Camenzind / Foto: AdobeStock/ImageFlow
Als die Zürcher Spitäler Ende Februar verkündeten, dass sie ab diesem Sommer auf temporäres Pflegepersonal verzichten wollen, gingen die Wellen hoch. Temporärpersonal sei zu teuer und belaste die Stammteams, begründeten sie den Entscheid. Sekundiert wurden sie von der Zürcher Gesundheitsdirektorin Nathalie Rickli (SVP), die bemängelte, dass sich die Temporärarbeit in den letzten Jahren «zu einem Trend entwickelt hat, der den Spitälern zunehmend schadet».
Wenig erfreut über den Entscheid zeigten sich naturgemäss die Anbieter von Temporärpersonal und der Branchenverband «Swissstaffing». Es werde «ein Keil zwischen die Festangestellten und die Temporären getrieben» und der Fachkräftemangel werde verschärft. Zudem werde das Wohlergehen der Patient:innen gefährdet, wenn in Zeiten von Personalengpässen kein Temporärpersonal mehr eingestellt werden könne. Auch die Vertretungen der Arbeitnehmer:innen äusserten sich kritisch. Die SBK-Sektion ZH/GL/SH etwa machte darauf aufmerksam, dass Pflegende ihren Arbeitgeber frei wählen, und das könne «neben einer traditionellen Festanstellung eben auch eine Temporärfirma sein». Ein plötzlicher Anstellungsstopp von Temporären würde die Arbeitsverdichtung erhöhen und nicht senken. Die Sektion kritisierte auch, dass in der Medienmitteilung kein Wort der Wertschätzung für das Temporärpersonal zu finden sei, obwohl dieses ebenfalls zur Versorgungssicherheit beiträgt.
Das Thema bewegt. Bis anhin gab es jedoch in der Schweiz keine Forschung dazu. Das hat sich nun geändert. Ein Forschungsteam befasste sich im Rahmen des nationalen Forschungsprogramm (NFP) 77 «Digitale Transformation» mit Temporärarbeit in der Pflege. Der Praxisreport des Forschungsprojekts «Crowd Working in der Schweiz» (CroWiS) steht kurz vor der Veröffentlichung (s. Box unten).
Plattformen verändern die Temporärarbeit
Die Temporärarbeit hat sich mit dem Aufkommen von digitalen Tools verändert. Diese erleichtern die Vermittlung und Administration von Temporärarbeit, was ein höheres Aufkommen ermöglichte. Während es früher Festangestellte und temporäre Pflegefachpersonen gab, haben sich mit den digitalen Plattformen diverse Formen von Temporärarbeit entwickelt. Grob unterscheiden lassen sie sich bezüglich externer oder interner Anstellung, Einsatzdauer und Einsatzort.
Es gibt also nicht mehr nur Festangestellte und Temporäre, sondern zahlreichen Mischformen: Eine Pflegefachperson bietet sich beispielsweise neben der Festanstellung über eine Plattform für einzelne Schichten bei einem oder mehreren anderen Arbeitgebern an. Eine andere arbeitet auf einer Abteilung, ist aber über den internen Pool für einzelne Schichten auf anderen Abteilungen verfügbar. Eine dritte setzt auf komplette Flexibilität und Selbstbestimmung und arbeitet nur temporär, wobei es auch hier Unterschiede bezüglich Einsatzdauer und -ort sowie Anstellungsform gibt.
Schlechte Datenlage
Er sei überrascht gewesen, wie wenig Daten vorhanden sind, erklärt Florian Liberatore. Der Gesundheitsökonom der ZHAW ist einer der Projektverantwortlichen von CroWiS (s. Interview S. 17). Die Diskussion über Temporärarbeitende in der Pflege finde «im Blindflug» statt. Es gibt keine schweizweiten Daten über den Anteil von Temporären in der Pflege, und auch in den Betrieben lasse sich im Rückblick kaum eruieren, wer mit welchem Anstellungsmodell in welchen Schichten gearbeitet hat. Das nationale Monitoring Pflegepersonal (pflegemonitoring.ch) des Obsan behilft sich mit Daten aus der Schweizer Arbeitskräfteerhebung (SAKE), einer Stichprobe der Schweizer Wohnbevölkerung. Darin fehlen jedoch Grenzgänger:innen und Kurzzeitaufenthalter:innen, die in der Pflege häufig zu finden sind. Das Obsan räumt ein, dass der Indikator «mit Vorsicht» zu geniessen sei. Repräsentative Aussagen zur Temporärarbeit in der Pflege in der Schweiz sind folglich auch mit CroWiS nicht möglich. Aber zum ersten Mal wurde das Thema wissenschaftlich aus verschiedenen Perspektiven untersucht. Einige Teilprojekte sind noch in Arbeit, wie jenes des Instituts für Pflegewissenschaft (INS) der Universität Basel, das die Auswirkungen von Temporärarbeit auf die Pflegequalität untersucht.
Einige Zahlen
Ein Grossteil der Spitäler beschäftigt Temporärarbeitende in der einen oder anderen Weise, wobei es Unterschiede bezüglich Häufigkeit und der Einsatzmodelle gibt (allgemeiner Springerpool, kundenbezogener Pool). Im Rahmen von CroWiS konnten die Forschenden die Plattformdaten von Careanesth analysieren, einem der grossen Anbieter von temporärem Pflegepersonal. Die Analyse dieses Datensatzes ergab, dass in den Jahren 2016 bis 2023 der Einsatz von Temporärpersonal zunahm. Öffentliche und gemeinnützige Spitäler buchten tendenziell mehr temporäre Pflegende als gewinnorientierte, und Grundversorger mehr als Zentrums- und Universitätsspitäler. Im untersuchten Zeitraum nahmen auch Buchungen durch Spitex-Organisationen und Pflegeheime zu, während zu Beginn vor allem Spitäler auf der Plattform aktiv waren.
Das Team von Michael Simon vom Institut für Pflegewissenschaft hat Daten von zwei Spitälern detaillierter mittels Chart-Reviews ausgewertet. Es zeigen sich grosse Unterschiede: In Spital 1 wurde in 57,2 Prozent der Schichten mindestens eine temporäre Pflegeperson eingesetzt. Der Anteil der Temporären schwankte von 17,4 Prozent in den Tagesschichten bis 41,9 Prozent in Halbtagsschichten. In Spital 2 wurde demgegenüber nur in 15,4 Prozent der Schichten mindestens eine temporäre Pflegende eingesetzt, mit einem Anteil von 1,4 Prozent in Halbtagsschichten bis 17,2 Prozent in Nachtschichten. Der grösste Anteil der befristeten Einsätze erfolgte durch unqualifizierte Pflegende.
Erfahrungen der Pflegenden
Insgesamt zeigten sich keine bedeutsamen Unterschiede in der Arbeitszufriedenheit von festangestellten und temporären Pflegenden. Bei Letzteren leidet diese vor allem unter einer als ungerecht empfundenen Bezahlung.
Zudem gaben sie eher an, dass sie negative soziale Konsequenzen befürchten, wenn sie Missstände ansprechen. Sie legen Wert auf ihre Unabhängigkeit und haben eine stärkere Absicht, ihre Dienstpläne durchzusetzen. Eine wichtige Herausforderung ist eine niedrigere soziale Wertschätzung und weniger Verbundenheit mit den Arbeitskolleg:innen.
Für Festangestellte können Temporäre eine Entlastung darstellen, indem sie die Einhaltung des Dienstplans ermöglichen und Sondereinsätze vermieden werden können. Herausfordernd kann der Einsatz von Temporären sein, wenn sie Supervision benötigen. Festangestellte, die besonders häufig mit Temporären arbeiten, berichten über ein höheres Ausmass an unzumutbaren und unnötigen Aufgaben.
Handlungsempfehlungen für Temporäre
Der Praxisreport formuliert verschiedene Handlungsempfehlungen: auf Ebene der einzelnen (temporären) Pflegenden (Mikro-Ebene), auf der organisatorischen und strategischen Ebene in den Institutionen (Meta-Ebene), sowie bezüglich Datenmonitoring, Recht und Regulierung (Makro-Ebene). Temporär arbeitende Pflegende sollten sich bewusst sein, dass diese Arbeitsform psychosoziale Folgen hat (tiefere Zugehörigkeit). Sie sollten Strategien entwickeln, um damit umzugehen und sich aktiv um ihre Integration bemühen, um die Teamarbeit effizient zu gestalten.
Handlungsempfehlungen für Spitäler
Auf der operativen Ebene in den Institutionen empfiehlt der Report:
- die Stärkung von (internen) Pool-Strukturen (Definition von Kompetenzprofilen, Abgleich mit Anforderungsprofilen für den Einsatz in anderen Abteilungen; Angebot von Schulung und Trainings für an diesem Modell interessierte Mitarbeitende)
- die standardisierte und vollständige Erfassung des Fachpersonals (fest und temporär) in den primären Personalplanungstools (z. B. PEP)
- Onboardingkonzepte für Temporärpersonal (Leitfaden zur Integration; Rollenverteilung, Verantwortlichkeiten, Zugriffsberechtigungen, z. B. auf den Medikamentenschrank; Tandem-Konzept Festangestellte/Temporäre)
- Budgetierung und Planung des Aufwands, den die Festanstellten für die Koordination und Integration von temporären Pflegenden haben, z. B. finanzielle Entschädigung, aber auch Wertschätzung und Anerkennung)
Auf strategischer Ebene sollten die Spitäler:
- Strategien zum Einsatz von temporären Pflegefachpersonen entwickeln (wann, mit welchem Ziel)
- temporäres Personal in Budgetierung und Erfolgsrechnungen integrieren
- Awareness und Akzeptanz von temporärem Personal schaffen (Notwendigkeit, Herausforderungen, Nutzen)
- wahrgenomme Lohnungerechtigkeit aktiv thematisieren und klären (Transparenz, Fairness)
- verschiedene Anstellungsformen in der Institution prüfen und entwickeln (Fest, Pool, Springer, hybride Modelle)
Ein wichtiger Beitrag zur Debatte
Der CroWiS-Praxisreport ermöglicht trotz der schlechten Datenlage erstmals fundierte Einblicke in das Thema Temporärarbeit in der Pflege in der Schweiz. Weitere Analysen sind noch in Arbeit, so etwa das bereits genannte zu den Auswirkungen von Temporärarbeit auf die Pflegequalität. Wie Florian Liberatore im Gespräch erwähnte, dauerte es lange, Zugang zu den Daten zu erhalten, die aus verschiedenen Datenquellen kommen, und es sei aufwändig, sie für die Analyse aufzubereiten.
Aktuell wird über die Temporärarbeit in der Pflege emotional gesprochen. CroWis ermöglicht eine sachlichere Diskussion. Zunächst einmal mit dem Hinweis, dass die Kategorie «Temporärarbeit» nicht mehr scharf umrissen ist. Dann darf man sich fragen, wie ein Entscheid, auf temporäre Pflegende ganz zu verzichten, tatsächlich begründet ist. Florian Liberatore nennt vier mögliche Motive: Man will Druck auf die Anbieter machen, damit sie die Tarife senken. Oder auf die Temporären, damit sie in die Festanstellung zurückkommen (was allerdings mit dem Risiko verbunden ist, dass sie ganz aus dem Beruf aussteigen). Oder es geht um Druck nach unten, auf die HR-Abteilungen und die Pflegedienstleitungen, damit sie rascher ohne auskommen. Oder vielleicht braucht man auch einfach einen Sündenbock: Die Betriebe stehen unter finanziellen Druck, viele machen Verluste. Da ist es einfach, die Schuld dafür den temporären Pflegenden und den Agenturen zu geben.
Dank CroWiS erhalten die Betrieben zahlreiche Werkzeuge, um attraktive Arbeitsbedingungen und passende, flexible Arbeitszeitmodelle zu schaffen. Mit internen Pool-Strukturen, einem planvollen und strategisch fundierten Einsatz von externem Temporärpersonal, mit Fairness, Transparenz gegenüber den Festangestellten können sie dafür sorgen, dass eine Kultur entsteht, in der temporäre Mitarbeitende akzeptiert und willkommen geheissen werden. Es kann gute Gründe dafür geben, dass eine Pflegende temporär arbeiten möchte: Um verschiedene Settings kennenzulernen, um sich dank einem Zusatzverdienst einen Traum zu erfüllen oder um die Möglichkeit zu haben, zwischen den Einsätzen etwas ganz anderes zu machen. Der grösste Verlust wäre es, wenn sie den Beruf verlässt.
Florian Liberatore, Studienleiter CroWiS
«Ich wünsche mir eine sachlichere Diskussion»
Krankenpflege: Was ist ihre Einschätzung zum Entscheid der Zürcher Spitäler, ab Sommer kein Temporärpersonal mehr einzustellen?
Florian Liberatore: Ich finde ein Verbot unverständlich. Entweder machen Temporäre aus betriebswirtschaftlicher Sicht Sinn oder man braucht sie nicht. In unserem Forschungsprojekt wurde klar, dass die Spitäler nicht an einem Punkt sind, dass sie ohne Temporärpersonal auskommen. Dafür fehlen elementare Werkzeuge und Strukturen. Ich verstehe aber das Argument und es macht in gewisser Weise auch Sinn, Pflegende aus internen Pools zu nutzen, die sich auskennen, anstatt Personen, die nur für eine Schicht von ausserhalb kommen.
Was hat Sie am meisten überrascht?
Ich hätte nicht gedacht, dass wir so viele Fragen nicht bearbeiten können, einfach weil die Daten fehlen. Man kann über das Thema eigentlich gar nicht vernünftig sprechen. Es wird nicht differenziert angeschaut und seiner Komplexität entsprechend diskutiert. Es gab viele emotional aufgeladene Debatten, wo wir etwas Objektivität und Sachlichkeit hineinbringen mussten.
Was sind die Stärken des Projekts?
Es ist das erste Mal, dass das Thema wissenschaftlich beleuchtet wurde, und das aus verschiedenen Perspektiven – wir haben versucht, juristische Aspekte, die Seite der Temporärkräfte, der Festangestellten und der Organisationen anzuschauen. Und ich halte es für wertvoll, dass wir die Plattformdaten analysieren konnten. Das ist ein neuer Datenschatz, den man in der Forschung nutzen sollte. Vor diesem Hintergrund sehe ich es kritisch, dass praktisch nur Careanesth bereit war, uns die Daten zu geben.
Was sind die dringendsten Handlungsempfehlungen?
Das Datenthema, in den Organisationen, aber auch schweizweit. Denn es kommen auch rechtliche Fragen auf, wenn zum Beispiel jemand 100 Prozent festangestellt ist, aber auch noch 20 Prozent temporär arbeitet. Da geht es um Arbeitszeitregelungen oder die Einhaltung von Ruhezeiten. Das Zweite, was ich mir wünsche: dass sachlicher diskutiert wird. Dass Temporärkräfte nicht einfach als nervende, störende, teure und überbezahlte Personen gesehen werden, sondern dass eine positive Kultur geschaffen wird, in der sie als wertvolle Ressource gesehen werden. Das muss von oben nach unten kommuniziert werden, aber auch in den Abteilungen und Teams.
Das Forschungsprojekt CroWiS (Crowd Working in der Schweiz)
Das Projekt CroWiS untersuchte die Thematik der Temporärarbeit in der Pflege auf verschiedenen Ebenen und in mehreren Teilprojekten. Beteiligt waren Forschende der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), der Universität Freiburg und des Instituts für Pflegewissenschaft der Universität Basel. Der Praxisreport «Temporärarbeit in der Pflege in der Schweiz: Status Quo, Herausforderungen und Handlungsempfehlungen» erscheint im April. Diverse Publikationen aus Teilprojekten von CroWiS sind bereits erscheinen, weitere sind in Vorbereitung.
Mehr Informationen zum Projekt unter https://data.snf.ch/grants/grant/187433
Personalkosten von temporären Pflegenden
Um die Personalkosten von temporären Pflegenden zu beurteilen, muss man wissen, was man vergleicht. Betrachtet man den reinen Stundenansatz, ist dieser beim Temporärpersonal höher. Allerdings sind darin anteilmässig auch Ferien, Feiertage, 13. Monatslohn sowie Arbeitgeberbeiträge an die Sozialversicherungen inbegriffen. Zusätzlich relativiert sich die Differenz, wenn weiteren Aspekten Rechnung getragen wird. Die tatsächliche produktive Arbeitszeit etwa ist bei Festangestellten tiefer ist als ihre theoretische Verfügbarkeit (z. B. wegen Krankheitsausfällen). Kostenvergleiche sollten daher aus einer Total-Costof-Ownership-Perspektive vorgenommen werden, die erlösseitige und kostenseitige, direkte und indirekte Wirkungen komplett erfasst.
Weitere Themen in dieser Ausgabe (auch im Online-Magazin):
- Technostress: Stress durch Technologie
- Sicher in Führung gehen: Wie Abteilungs- und Gruppenleitende in ihrer Entwicklung unterstützt werden
- Pädiatrische Essstörungen: Ein spezialisierte pflegerische Beratung
- uvm.