Ein Beruf im Aufbruch

Pflege und Fussball, Innovationen aus Wissenschaft und Praxis, aber auch wichtige Rückbesinnung auf alte Werte: Der Schweizer Pflegekongress am 7. und 8. Mai hat deutlich gemacht: Die Pflege ist ein Beruf am Puls der Zeit und entwickelt sich rasant.

Autorin: Martina Camenzind / Fotos: Martin Glauser

«Die Ärzte waren ok. Aber wirklich beeindruckt haben mich die Pflegefachpersonen.» Mit diesen Worten eines Bekannten, der wegen eines Herzinfarkts ins Spital eingeliefert worden war, eröffnete Anne Lévy den diesjährigen Pflegekongress. Die Direktorin des Bundesamts für Gesundheit machte klar, dass die Pflege sichtbar ist: «Sie leisten eine wichtige Arbeit, die auch gesehen wird.» Und das nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch beim BAG.

Die erste Keynote stand unter dem Motto «Am Ball bleiben – im Sport und in der Pflege». Anlass für die Themenwahl war die Fussball-Europameisterschaft der Frauen, die diesen Juli in der Schweiz stattfindet (welche Parallelen die Pflege und der Fussball haben, lesen sie auf S. 17).
Sie habe es nicht so mit Sportmetaphern, gab Anne Lévy zu, aber sie nehme die Herausforderung an. Der SBK «spielt in der Nationalliga», wie der Erfolg der Pflegeinitiative gezeigt hat. Und «der Ball ist versenkt», was die erste Etappe der Umsetzung betrifft. Die Ausbildungsoffensive ist seit dem 1. Juli 2024 in Kraft. Alle Kantone haben Finanzierungsgesuche gestellt und schon 72 Millionen des Bundesbeitrags sind gesprochen. Das nationale Pflegemonitoring läuft und erhebt umfangreiche Daten, mit denen die Wirkung der Massnahmen gemessen werden kann.

«Ein schwieriger Match»

Die zweite Etappe werde jedoch «ein schwieriger Match». Die Vernehmlassung zum Entwurf des Bundesrats habe gezeigt, dass es wesentliche Differenzen zwischen den Arbeitgebenden und den Arbeitnehmenden gibt und auch die Kantone seien skeptisch (s. AmPuls, S. 9). Anne Lévy verwies aber auf sichtbare Verbesserungen. Institutionen führen neue Arbeitszeitmodelle ein und Mitarbeitende können bei der Dienstplanung mitreden. Es sei jedoch klar, dass es nicht «eine Lösung für alle» gebe. Neben der Umsetzung der Pflegeinitiative stehe die Pflege auch in der Agenda Grundversorgung von Bundesrätin Elisabeth Baume- Schneider im Fokus: Es sollen innovative Modelle geschaffen werden, in denen Pflegefachpersonen, insbesondere APN, und andere Gesundheitsberufe sinnvoll zusammenspielen. Auch hier rede der SBK mit: «Das Team Pflege ist ein starkes Team». 

In den Kantonen «am Ball bleiben» 

Mit Barbara Gysi war am Freitag eine Kämpferin für die Anliegen der Pflege eingeladen. «Ich werde alles geben, um im Parlament Mehrheiten zu schaffen, damit die Initiative vollumfänglich umgesetzt wird. Auch wenn es nicht einfach wird», erklärte die Nationalrätin, Präsidentin der Gesundheitskommission und SBK-Ehrenmitglied. «Euer Beruf hat einen starken humanistischen Kern und dieser Kern gibt mir Mut und Energie, mich für euch zu engagieren, gerade in einer Zeit, in der die Welt ziemlich düster ist.» 
In der Schweiz sind die Kantone für die Gesundheitsversorgung verantwortlich. «Es ist darum extrem wichtig, dass ihr gerade auf dieser Ebene am Ball bleibt!», rief sie die Anwesenden auf und erinnerte daran: «Die Bevölkerung steht hinter euch!» Das habe sie bei der Abstimmung zur Pflegeinitiative gezeigt und das habe sie in ihrem Kanton St. Gallen wieder gezeigt, wo die Ausbildungsoffensive mit satten 88 Prozent der Stimmen angenommen wurde. «Ihr habt Macht! Scheut euch nicht, diese Macht zu nutzen!»

Aktiv, lösungsorientiert, innovativ

«Sie packen an, sind aktiv, lösungsorientiert und innovativ»: Die Feststellung von Anne Lévy zog sich wie ein roter Faden durch die beiden Kongresstage. In den vier Keynotes, den Sessions, Workshops und in der Posterausstellung wurde deutlich, wie rasant sich die Pflege entwickelt. Der Fokus liegt dabei auf den Bedürfnissen der Bevölkerung, aber nicht nur: Auch innovative Methoden in der Aus- und Weiterbildung wurden präsentiert, der Einsatz der Betriebe für bessere Arbeitsbedingungen oder der Nutzen von digitalen Tools, von Design und KI. Die beiden Tage boten so ein Panorama eines Berufs und einer Branche im Aufbruch.

Eigenen Beitrag nicht vergessen

Es war jedoch keineswegs so, dass die Pflegenden einfach «auf den Sockel gestellt» wurden. In mehreren Beiträgen wurde deutlich gemacht, dass gute Arbeitsbedingungen nicht nur von den Rahmenbedingungen oder vom Management abhängen. Dass Institutionen die Botschaft gehört haben und daran arbeiten, ihren Pflegenden bessere Bedingungen und hilfreiche Werkzeuge zur Verfügung stellen, wurde in den zwei Tagen mehrfach gezeigt. Ein Beispiel dafür ist die LUKS-Gruppe, die mit dem Modell «Unit Pflege» den Pflegefachpersonen wieder Verantwortung, Sinn und Zeit für die Patient:innen geben und ihre Kompetenzen besser nutzen will (siehe S. 16).

Zufriedenheit mit der Arbeit hängt aber auch von der Kultur im Team und in der Institution ab. Dabei gibt es Verbesserungspotenzial, wie Angela Schnelli in ihrer Keynote klar machte – und sie sprach dabei auch unangenehme Wahrheiten an: Pflegende erleben nicht nur Gewalt und Aggression von Seiten der Patient:innen und Angehörigen. Sondern auch von Arbeitskolleg:innen und Vorgesetzten – in Form von Mobbing und Schikanen – oder indem eigentlich Unzumutbares heruntergespielt wird («Das ist einfach so, gewöhn dich besser dran»; s. Box S. 13).

Wie es gelingt, solche unguten Mechanismen zu überwinden, war das Thema von Elke Steudter (Careum Fachhochschule) und Antoinette Conca (Kantonsspital Aarau). Sie zeigten in ihrem Beitrag «wie die personenzentrierte Pflegepraxis die Teamkultur fördert». Der Ansatz der Personenzentriertheit unterstützt auch dabei, eine positive Kommunikation und Interaktion im Team zu schaffen und sich gegenseitig Wertschätzung zu zeigen. Schon kleine Veränderungen können viel bewirken: Die Nachfrage, wenn man Gefühl hat, dass es einer Kollegin nicht gut geht, ein «Danke» oder ein Lob zur richtigen Zeit …

Widerstand ablegen, Systeme (aus-)nutzen

Nicht nur im Umgang miteinander, sondern auch mit Veränderungen im Berufsalltag und mit digitalen Werkzeugen gibt es noch Potenzial. Ein Beispiel dafür ist die Dokumentation, die oft als mühsame Pflicht gesehen wird. Doch wenn pflegerische Leistungen nicht dokumentiert sind, sind sie nicht sichtbar, wie unter anderen Leonie Roos von der Berner Fachhochschule aufzeigte. Mehr noch: Die Dokumentation lässt auch die Auswertung von wichtigen pflegerischen Qualitätsindikatoren zu, wie beispielsweise Sturz und Dekubitus.
Eine gute Dokumentation kann für Institutionen ausserdem einkommensrelevant sein. Wie das funktioniert, erklärte Heiko Mage Rätzsch von der Reha-Klinik Tschugg in einer Session: Es geht darum, dass aufwendige Pflege auch tatsächlich bezahlt wird. Im DRG-System ist das beispielsweise der CHOP-Code «Pflege-Komplexbehandlung». Wenn die geleistete Arbeit so dokumentiert wird, dass der CHOP-Code ausgelöst wird, ist die Pflege nicht Kostenfaktor, sondern generiert Einkommen.
Das setzt natürlich voraus, dass den Pflegefachpersonen die richtigen Werkzeuge zur Verfügung gestellt werden – und sie diese auch nutzen. Manchmal auch, um persönlich davon zu profitieren. Zum Beispiel von einem Dienstplan, der die eigenen Wünsche berücksichtigt. Um den Mitarbeitenden einen solchen Dienstplan zu bieten, setzt die LUKSGruppe auf die Hilfe von KI: In einer App können die Pflegenden ihre bevorzugten Arbeitstage und -schichten erfassen. Die KI unterstützt dabei, die Einsatzpläne so zu berechnen, dass alle Angestellten einen Arbeitsplan haben, der ihre Wünsche so weit wie möglich berücksichtigt. Allerdings setzt das System die Mitarbeit der Angestellten voraus: «Wer seine Präferenzen nicht in der App erfasst, hat am Ende einen
miesen Dienstplan», erklärte LUKS-Informatikerin Rahel Herkenrath. Es lohnt sich also, die angebotenen Tools zu benutzen.

Der Blick über Grenzen

Der Pflegekongress ist nicht nur eine Nabelschau, sondern bietet immer auch Gelegenheit, um über Berufs- und Landesgrenzen
hinaus zu schauen: Die Berner Generalstaatsanwältin Annatina Schultz hat sich dem Kampf gegen Menschenhandel verschrieben und informierte über die Gesetzeslage und erfolgreiche Ermittlungen. Robin Rieser stellte das «Toolkit Planetary Health» der FMH vor, mit dem Arztpraxen ihren Umwelt- und Klima-Impakt überprüfen und verbessern können. Ein Angebot, das auch für Spitexorganisationen nützlich sein kann! 
Für die internationale Perspektive waren Christophe Debout, Elisabeth Potzmann und Marte Rime Bø besorgt. Der französische Anästhesiepflegefachmann und die österreichische Pflegeverbandspräsidentin berichteten über die Hürden (eher zahlreich) und die Erfolge (hart erkämpft) der Pflege in ihren Ländern. Die norwegische Expertin für Terminologie konnte hingegen Erfreulicheres berichten: In ihrem Land sind standardisierte Pflegepläne auf der Grundlage der ICNP-Klassifikation landesweit im Einsatz und erleichtern die Arbeit der Pflegefachpersonen im klinischen
Umfeld.

UNIT-Pflege: Zurück zu den Wurzeln

«Jeder Pflegemanager sollte einmal in einem Spitalbett liegen – wenn auch nicht unbedingt mit so viel Schmerzen wie ich.» Michael Döring-Wermelinger war nach einem Unfall beim Biken in «seinem» Luzerner Kantonsspital aufgewacht. «Ich habe in drei Stunden zwanzig Leute gesehen, aber nur eine Diplomierte. Die Hauptansprechperson war von der Hotellerie.» Die Erfahrung
führte bei Chief Nursing Officer Döring zu einem radikalen Umdenken – zu «Exnovation», einem Schritt zurück:
Weg von fragmentierten Prozessen, hin zu einem Modell, in denen Pflegefachpersonen wieder Sinn in ihrer Arbeit sehen, ihre Zeit bei den Patient:innen verbringen und ihrem Anspruch einer «ganzheitlichen Pflege» wieder gerecht werden können. Seit November 2024 läuft «Unit Pflege» 2024 als Pilotprojekt, wissenschaftlich begleitet von der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Im Modell ist eine Diplomierte zuständig für ein «Unit» von vier bis sechs Patient:innen. Sie trägt die Verantwortung für den gesamten Pflegeprozess und ist Hauptansprechperson. In Ausbildungsunits übernehmen Studierende gegen Ende des Studiums die Verantwortung, mit dem oder der Berufsbildner:in im Hintergrund. Natürlich erfordert das Modell diverse Anpassungen, nicht nur in der Schichtbesetzung und beim Personalschlüssel.

Döring ist trotz einigen nicht zu unterschätzenden Stolpersteinen vom Modell überzeugt und die bisherigen Resultate geben ihm Recht. Patient:innen und Pflegende sind zufriedener, die Studierenden sogar begeistert. Überstunden konnten reduziert, die Zeit an den Patient:innen erhöht und die Komplikationsraten gesenkt werden. Die Reaktionen aus dem Publikum sprachen Bände: «Wenn ich so arbeiten könnte, würde ich sofort zurück in die Praxis kommen!»

LOGIN Mitglied werden