Jugendliche mit Anorexie: die Familie als Pflegepartnerin
Die Psychiatriepflegefachpersonen Nathalie Dessibourg und Stéphane Le Toumelin arbeiten in der Sprechstunde für Essstörungen des universitären Diensts für die Kinder- und Jugendpsychiatrie des CHUV in Lausanne. Sie verwenden den Ansatz des Family-based Treatments (FBT), der die elterlichen Kompetenzen und die familiären Beziehungen im Umgang mit der Krankheit nutzt.
Text: Florence Michel
«Anorexia nervosa ist die einzige Krankheit, bei der man sich besser fühlt, wenn man krank ist» – Nathalie Dessibourg und Stéphane Le Toumelin, Pflegefachpersonen in der Psychiatrie, machten diese schreckliche Komplexität deutlich, als sie am letzten Schweizer Pflegekongress des SBK die familienbasierte Behandlung vorstellten, die sie in der Sprechstunde für Essstörungen in Lausanne anbieten. Die Beratungsstelle ist Teil des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensts des Waadtländer Universitätsspitals CHUV. Die Spezialsprechstunde befindet sich im Quartier Chauderon und wurde im März 2021 eröffnet. Sie arbeitet eng mit ihrem Gegenstück, dem Westschweizer Pionierprojekt ALINEA zusammen, das 2018 von den Genfer Universitätsspitälern HUG gegründet wurde. Die Waadtländer Sprechstunde unterscheidet sich dadurch, dass bei jeder Sitzung ein Tandem aus Psychotherapie und Pflege arbeitet, um kranke Kinder und Jugendliche mit ihren Familien zu betreuen. Es ist eine gezielte und abgestufte ambulante Intervention (s. Box rechts), die in erster Linie darauf abzielt, Gewicht wiederherzustellen und die Entwicklung der Jugendlichen, mehrheitlich junge Frauen, wieder in die richtige Bahn zu lenken. Die Betreuung basiert auf einem evidenzbasierten Ansatz mit einer ganzheitlichen Perspektive, die sowohl physische als auch psychische Aspekte der Krankheit berücksichtigt. Sie wird auf den Gesundheitszustand der einzelnen Patientin sowie auf ihre familiären und sozialen Schwierigkeiten und Bedürfnisse zugeschnitten. Falls erforderlich, wird sie in einer Tagesklinik oder durch einen Spitalaufenthalt fortgesetzt.
Die auf Anorexie spezialisierte Familientherapie, die vom Family-based Treatment (FBT) inspiriert ist, wurde in den 1980er Jahren am Maudsley Hospital in London entwickelt. «Es ist die psychotherapeutische Behandlung, die sich bei Teenagern mit Anorexia nervosa als am wirksamsten erwiesen hat», sagen Nathalie Dessibourg und Stéphane Le Toumelin, die beide von diesem Ansatz begeistert sind.
Das Team besteht aus einer Psychiaterin, einem Pädiater, zwei Psycholog:innen, einer Ernährungsberaterin und zwei Pflegefachpersonen. Warum das Tandem Psychotherapie/Pflege? «Es ist gut, zu zweit zu sein, damit man sich austauschen und klarer sehen kann. Es hilft, dass man sich auf die Komplementarität der Kompetenzen stützen kann, weil die Pathologie komplex ist. Als Pflegefachpersonen sind wir in die Betreuung der Familie eingebunden und sorgen in Absprache mit dem Arzt auch für die Verbindung der psychischen und somatischen Aspekte.» Die Ergebnisse des Ansatzes sind ermutigend. Die Erfolgsquote liegt bei über 50 Prozent (eine genaue Zahl wird nicht genannt). Heilung bleibt eine grosse Herausforderung und ist bei weitem nicht immer erfolgreich.
Schwere physische und psychische Folgen
Anorexia nervosa tritt in der Regel in der Jugend auf und ist äusserst besorgniserregend, denn sie weist die höchste Sterblichkeitsrate aller psychischen Erkrankungen auf. Bisher gibt es keine Medikamente, die bei der Behandlung der Grundsymptome nachweislich wirksam sind. Studien zeigen zudem eine steigende Zahl von Betroffenen, zu dem auch die soziale Medien beitragen, die sowohl die Belastung und die Unsicherheit des Selbstbildes als auch das Mobbing verstärken. «Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale sind ein Risikofaktor, aber Essstörungen können alle betreffen», sagt Stéphane Le Toumelin. «Die Krankheit führt zu einer zwanghaften, nie zufriedenstellenden Gewichtsabnahme. Sie ähnelt in mancher Hinsicht einer Sucht, mit einem von allen Emotionen abgeschnittenen Zustand. Sie hat sowohl auf körperlicher als auch auf psychischer Ebene gravierende Folgen.»
Die Unterernährung verschlimmert Zwangsvorstellungen, kognitive Inflexibilität, Empfindlichkeit gegenüber Kritik und Alexithymie (eine Unfähigkeit, die eigenen Emotionen zu erkennen). Dazu kommen Angststörungen und erhöhte Depressivität. Das psychische Leben tendiert dazu, zu verarmen, da es sich auf die Beschäftigung mit dem Essen und dem Gewicht beschränkt und wenig Raum für anderes lässt. Die Anorexie kann zu einer Art Identität werden: Sie wieder abzulegen, können sich die Patient:innen nicht vorstellen.
Wie bei Alizée, einer Jugendlichen aus dem Kanton Waadt, die eine familienbasierte Behandlung erhält, werden die Eltern als untrennbare Partner:innen und Betreuungsressourcen betrachtet (siehe S.?15). In den meisten Fällen sind sie die kompetentesten Personen, um ihr Kind zu unterstützen. Die Therapie stützt sich auf ihre Fähigkeiten und die Beziehungen, um Veränderungen herbeizuführen. Die ganze Familie leidet, sucht nach Lösungen und bildet gemeinsam mit den Fachpersonen ein Team, um die Krankheit zu bekämpfen – im Gegensatz zur lange üblichen Trennung der Jugendlichen mit Magersucht von den Eltern.
Der Schlüssel: Wissen über die Krankheit
Die ersten beiden Treffen in der Beratungsstelle dauern jeweils drei Stunden. Der Schwerpunkt liegt darauf, den Eltern und manchmal auch Geschwistern dabei zu helfen, den Prozess der Gewichtszunahme zu Hause zu bewältigen. Ziel ist, die Auswirkungen der Krankheit auf das tägliche Leben der Jugendlichen trotz der intensiven Behandlung so gering wie möglich zu halten und nach Möglichkeit einen Klinikaufenthalt zu vermeiden. Über mehrere Monate hinweg sind angesichts der Dringlichkeit und Gefährlichkeit der Situation ein bis zwei Konsultationen pro Woche üblich. Wenn die Eltern getrennt oder geschieden sind, wird die Familie aus den Personen gebildet, die im selben Haushalt wie die Jugendliche leben, was auch nicht-biologische Verwandte einschliessen kann und Personen ausschliesst, die sich nicht an der täglichen Betreuung beteiligen. Bei Alleinerziehenden und Einzelkindern kann eine andere verbündete erwachsene Person gefunden werden, beispielsweise ein Grosselternteil.
«Wir halten zunächst fest, dass es in der Familie eine Krise gibt», erklärt Nathalie Dessibourg, «damit wir mit dem Prozess beginnen können, die Eltern zu stärken, diese Krise zu bewältigen, wobei die Funktionsweise jeder Familie respektiert wird.» Wenn Zustimmung zur geplanten Behandlung vorliegt, liegt der Schlüssel im Wissen aller beteiligten Personen über die Krankheit. Wenn man die Mechanismen der Krankheit versteht, gelingt es, sich von den Gefühlen von Schuld, Frustration, Wut und Hilflosigkeit zu distanzieren, die die Menschen Umfeld üblicherweise empfinden.
Bei Anorexia nervosa ist der Begriff «Krankheit» an sich nicht immer selbstverständlich (siehe Box S.?13). Stéphane Le Toumelin hat eine Hypnoseausbildung absolviert und wendet gerne narrative Therapien an. Er kann eine interessante Perspektive anbieten: «Ich erkläre, dass die Jugendliche permanent dissoziiert ist, wie in einem Hypnosezustand. Physisch ist sie bei uns, aber in ihren zwanghaften, selbstkritischen Gedanken anderswo. Diese befehlen ihr, abzunehmen. Es kann schwierig sein, das zu verstehen. Aber wenn man einen zwanghaften Gedanken benennt, gibt man ihm schon weniger Bedeutung. Mit kurzen Therapieeinheiten kann ihr Widerstand, darüber zu sprechen, abgebaut werden. Bei der Art und Weise, wie man eine Person wieder in Verbindung bringt, wird heute der bio-psycho-soziale Ansatz empfohlen. Häufig haben sich die Patient:innen isoliert. Wenn es in einem dieser Bereiche Bewegung gibt, machen wir Fortschritte».
Eine therapeutische Mahlzeit
Bei diesem Ansatz ist die Familie für die Mahlzeiten verantwortlich. Der Arzt legt ein gesundes Gewicht fest, das die Jugendliche in den folgenden Monaten erreichen muss. Das Gehirn muss dringend ernährt werden, denn ein unterernährtes Gehirn ist überhaupt nicht in der Lage, sich für eine Heilung zu mobilisieren und motivieren. Zu Beginn der Behandlung findet ein gemeinsames therapeutisches Essen der Familie statt, die eine Mahlzeit ihrer Wahl mitbringt (eine Mikrowelle steht zur Verfügung). Das Pflegeteam beobachtet, kommentiert, erklärt und ermutigt. «Menschen, die an Anorexie leiden, haben sechs Monate, ein oder zwei Jahre ihres Lebens damit verbracht, Gewicht zu verlieren, was ihnen neben ihrem Leiden auch gewisse Belohnungen eingebracht hat. Die Zeit zurückzudrehen, ist für sie zunächst unvorstellbar. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, wie wir sie begleiten können, da jeder Weg einzigartig ist», sagt Stéphane Le Toumelin. «Nach und nach bringen wir die Ernährungsrhythmen wieder in Ordnung. Bei der Genesung geht es nicht nur um die Zunahme von Kilos, sondern darum, dass die Patientin ihr Leben wiederfindet und einen optimalen Gesundheitszustand erreicht.
Dieser Schwerpunkt erschien in der Ausgabe 3/2024 der Krankenpflege, der Fachzeitschrift des SBK.
11 Mal pro Jahr erscheint die dreisprachige Fachzeitschrift für die Pflege. Mitglieder des SBK erhalten sie frei haus. Andere Interessierte können die Fachzeitschrift abonnieren. Ein Jahresabonnement kostet 99 Franken.