Selbsthilfefreundliche Spitäler: Pflegende und Patientinnen ziehen am gleichen Strick
Die Frauenklinik des Kantonsspitals Winterthur ist ein «selbsthilfefreundliches Spital»: Selbsthilfegruppen und Pflegefachpersonen arbeiten regelmässig zusammen.
Damit kann den Patientinnen ein wichtiges ergänzendes Zusatzangebot gemacht werden.
Text: Elena Konstantinidis
In der Selbsthilfegruppe «Butterfly» zum Thema Fehlgeburt in der frühen Schwangerschaft treffen sich aktuell sieben Teilnehmerinnen einmal monatlich im Selbsthilfezentrum Winterthur. Der rund 90-minütige Austausch wird durch die Teilnehmerinnen selbst gestaltet. «Das Verstanden-Werden ist das Wichtigste», sagt Deborah. «Dadurch kann man am eigenen Verarbeitungsprozess "dranbleiben" und hört von den anderen, wie sie ihn gestalten. Das gibt mir wichtige Tipps.» Deborah hat mehrere Fehlgeburten erlebt: «Wenn man im privaten Umfeld darüber redet, erhält man manchmal auch Reaktionen, die verletzend sind statt hilfreich», sagt sie. «Ich war selber überrascht, wie stark mich die Fehlgeburten mitgenommen haben und habe gemerkt, dass ich einen Raum brauche, in dem ich frei darüber reden kann. Erst nachher habe ich realisiert, wie viele Leute die gleiche Erfahrung machen – und nicht darüber reden.»
Sam ist Anfang vierzig und Mutter eines Kindes. Der Wunsch nach einem zweiten wurde leider nicht erfüllt: Sie musste sich mehrfach kurz hintereinander nach Fehlgeburten in der Frauenklinik behandeln lassen. Auch wenn sie sich medizinisch sehr gut betreut fühlte, folgte auf die einschneidenden Erlebnisse ein psychischer Zusammenbruch. Mit anderen Betroffenen in einer Selbsthilfegruppe ins Gespräch zu kommen, erlebt sie als wichtige Unterstützung: «Die medizinische Behandlung ist abgeschlossen. Aber das Thema bleibt für mich präsent. Als Betroffene wäre es für mich damals wichtig gewesen zu hören: ‹Du bist nicht allein›», sagt Sam.
Selbsthilfeangebote systematisch bekannt machen
Aus dieser Erfahrung heraus engagieren sich die beiden Frauen heute in Freiwilligenarbeit dafür, den Kontakt zwischen Spital und Selbsthilfegruppe zu gestalten. Denn die Frauenklinik ist ein «selbsthilfefreundliches Spital» und hat in den letzten zwei Jahren eine Reihe von Massnahmen umgesetzt, um Patientinnen systematisch auf die Angebote der Selbsthilfegruppen aufmerksam zu machen. So werden unter anderem Flyer mit Hinweisen zu Selbsthilfegruppen konsequent in den Wartebereichen aufgelegt und auch an die Patientinnen abgegeben. Patientinnen auf Selbsthilfeangebote aufmerksam zu machen, ist als fixe Aufgabe auch auf der Einführungscheckliste für das Pflegepersonal festgehalten. Personen, die in den Selbsthilfegruppen aktiv sind, wirken zudem auch an öffentlichen Informationsveranstaltungen des KSW mit. Im Kontext der Entwicklung der Selbsthilfefreundlichkeit wurde das Personal im Rahmen eines Themenmonats «Selbsthilfe» gezielt geschult. Die Fachpersonen erhielten fachliche Impulse sowie einen Eintrag im Info-Ordner. Die Patientinnen-Perspektive wurde dabei mittels Videofilmen vermittelt.
Erweiterung der Perspektive der Pflegenden
Fabienne Süess, stellvertretende Leiterin Pflege an der Frauenklinik, hat die Funktion als übergeordnete Ansprechperson für Selbsthilfe inne. Sie sagt: «Wir helfen den Patientinnen in der akuten Phase, aber danach haben wir keine Berührungspunkte mehr mit ihnen. Wir wissen nicht viel darüber, wie sie eine Fehlgeburt und die Behandlung erlebt haben und welche Auswirkungen das langfristig auf ihr Leben hat.» Die Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe ermöglicht den Pflegefachpersonen, das Erleben der Patientinnen vertiefter und näher kennenzulernen. «Das ist für uns eine wichtige Erweiterung der Perspektive. Wir hören, welche Bedürfnisse Patientinnen haben und wie wir den Umgang mit ihnen in der akuten Phase optimieren können.» Weitere Pflegeexpertinnen und -fachfrauen sind als «Thementrägerinnen» in Bezug auf die Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe bestimmt zu spezifischen Themen, wie frühem Kindsverlust oder Inkontinenz. Sie pflegen den Kontakt mit den jeweiligen Selbsthilfegruppen und tauschen sich mindestens einmal im Jahr mit diesen aus.
Betroffenenensicht fliesst in Pflegekonzept ein
In der Frauenklinik des KSW besteht ein Pflegekonzept für den Umgang mit früher Fehlgeburt und Schwangerschaftsabbruch. Es liefert Informationen, klärt Haltungen, regelt Prozesse und gibt Hinweise für Gespräche mit den betroffenen Personen. Die Selbsthilfegruppe «Butterfly» bespricht dieses Konzept im Austausch mit der Thementrägerin zum Thema Kindsverlust. Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe berichten dabei über ihre Erfahrungen, und machen Vorschläge dazu, was aus ihrer Perspektive für die Pflege hilfreich sein könnte, um Abläufe und den Umgang mit den Patientinnen zu verbessern. Beide Seiten bringen Fragen und Anliegen ein, die zur verbesserten Umsetzung des Konzepts beitragen.
In den Austauschgesprächen erörtern die Gruppenmitglieder gemeinsam mit den Fachpersonen auch Möglichkeiten und Stolpersteine bei der Information der Patientinnen über Selbsthilfegruppen. Deborah und Sam sind sich einig: «Dass das Spital den Flyer der Selbsthilfegruppen abgibt, verleiht der Empfehlung Gewicht. Aber im ersten Moment ist die Patientin vielleicht mit der Situation überfordert und lehnt das ab. Wir wissen aber aus Erfahrung, dass es wichtig ist, diese Information auch zu einem späteren Zeitpunkt wieder zur Hand zu haben.»
Selbsthilfegruppe und Fachpersonen entwickeln gemeinsam Vorschläge für Formulierungen wie: «Ich gebe Ihnen das jetzt einfach mal mit. Sie können sich gerne später nochmal melden, wenn Sie eine Frage dazu haben.» Deborah sagt: «Jede Frau erlebt die Situation anders. Darum ist es wichtig, dass wir im offenen Austausch mit den Fachpersonen verschiedene Aspekte des Themas erörtern können.» Daraus entstehen weitere praktische Hinweise. So kann es zum Beispiel sinnvoll sein, die Information zunächst an einen begleitenden Partner der Patientin abzugeben.Fabienne Süess betont die Bedeutung der regelmässigen Kontakte: «Den Austausch mit den Selbsthilfegruppen aktiv zu pflegen, ist enorm wichtig. Denn die Begegnung mit den Patientinnen trägt dazu
Dieser Schwerpunkt erschien in der Ausgabe 11/2023 der Krankenpflege, der Fachzeitschrift des SBK.
11 Mal pro Jahr erscheint die dreisprachige Fachzeitschrift für die Pflege. Mitglieder des SBK erhalten sie frei haus. Andere Interessierte können die Fachzeitschrift abonnieren. Ein Jahresabonnement kostet 99 Franken.