Neurodiversität: Die unendliche Vielfalt der Gehirne
Die Neurodiversitätsbewegung plädiert dafür, neurokognitive Unterschiede nicht als Störungen, sondern als normale Varianz wahrzunehmen. Doch Autismus, AHDS und andere Formen von Neurodivergenz sind immer noch stigmatisiert. Das hat negative Folgen für Betroffene und für neurodivergente Gesundheitsfachpersonen.
Text: Martina Camenzind
«Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind neurologische Entwicklungsstörungen. Ihre Kennzeichen sind gestörte soziale Interaktion und Kommunikation, wiederholte und stereotype Verhaltensmuster und ungleichmässige geistige Entwicklung, oft mit geistiger Behinderung verbunden.»
«Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHD) wird als Störung bei der Entwicklung des Nervensystems betrachtet. Störungen der neurologischen Entwicklung sind neurologisch bedingte Umstände, die früh in der Kindheit auftreten, in der Regel vor dem Schuleintritt und die Entwicklung von persönlicher, sozialer, akademischer und/oder beruflicher Funktionsfähigkeit beeinflussen.»
«Lernstörungen zeigen eine Diskrepanz zwischen möglichen und aktuellen intellektuellen Leistungen, die aufgrund der intellektuellen Fähigkeit einer Person erwartet werden. Lernstörungen können Schwierigkeiten in der Konzentration oder Aufmerksamkeit, der Sprachentwicklung oder der visuellen oder auditiven Informationsverarbeitung sein.»
Diese Beschreibungen aus dem «MSD-Manual der Diagnostik und Therapie» machen deutlich: Neurodivergenz gilt als defizitär. Menschen mit Lernstörungen benötigen «heil»-pädagogische Förderung, ADHS-Kinder sind die, die nicht stillsitzen können und immer stören, Menschen mit Autismus-Spektrum-«Störung» sind schwer behindert.
Diese negative Betrachtungsweise gerät zunehmend in Kritik. Ausgehend von der Autismus-Bewegung betonen Menschen, deren Gehirne nicht «entsprechend der Norm» funktionieren, dass sie nicht behindert sind, sondern vielmehr von der Gesellschaft behindert werden. Dieses soziale Modell von Behinderung betont die Barrieren, die Betroffene daran hindern, gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzunehmen. Was für Menschen im Rollstuhl die Treppe zu einem Gebäude ist, ist für Menschen mit Legasthenie ein komplizierter Text.
Neurodivers, neurodivergent, neurotypisch? Um was geht es?
Der Begriff Neurodiversität wird Judy Singer zugeschrieben, einer australischen autistischen Sozialwissenschaftlerin. Sie setzte diese Begriffsbildung in Zusammenhang mit einem neuen neurologischen Selbstbewusstsein. Der Begriff Neurodiversität bezieht sich darauf, dass unterschiedliche neurokognitive Funktionen nicht inhärent pathologisch sind. Vielmehr trägt er dem Umstand Rechnung, dass grundsätzlich alle Gehirne unterschiedlich sind. Was darüber hinaus für die menschliche Spezies überlebensnotwendig ist: Denn wenn alle immer alles nur so machen würden, «wie es immer gemacht wurde», wäre Entwicklung unmöglich.
Neurotypische Menschen «sind (vereinfacht ausgedrückt) in der Lage, schulische, berufliche, gesellschaftliche und soziale Anforderungen mit den (der Allgemeinheit) zur Verfügung stehenden Mitteln, in einer ähnlichen Art und Weise, in ähnlicher Zeit und mit ähnlichem energetischem Aufwand wie der grösste Teil der Mitmenschen zu bewältigen», erklärt die Wirtschaftspsychologin und ADHS-Coachin Anja Mathausch in ihrem Blog?¹. Demgegenüber sei es für neurodivergente Personen manchmal unmöglich, Dinge so zu tun «wie man es sollte»/ «wie es alle anderen machen». «Scheinbar gewöhnliche Anforderungen des täglichen Lebens können für neurodivergente Menschen erhebliche Herausforderungen bedeuten. Sie benötigen alternative Strategien und Methoden, um diesen gerecht zu werden und müssen spezielle, manchmal umständlich wirkende Wege nutzen, um das gleiche Ziel zu erreichen.» Konkret nennt Mathausch, die mit dreissig ihre ADHS-Diagnose erhielt, Hilfsmittel, um sich vor Reizüberflutungen zu schützen, mehr Gelegenheiten für Ruhe und Abstand, um ihr Nervensystem wieder zu beruhigen oder besondere Formen der Informationsdarbietung, um zum Beispiel Lern- und Verständnis-Erfolge zu erzielen.
Genaue Zahlen sind schwierig zu ermitteln
Man geht davon aus, dass mindestens zehn Prozent der Menschen neurodivergent sind. Amanda Kirby und Mary Cleaton weisen jedoch darauf hin, dass es schwierig ist, eindeutige Zahlen zu berechnen?² Die Schätzungen unterscheiden sich zum Teil erheblich: Während man bei ADHS bei Kindern im Vereinigten Königreich von 0,5 bis 2,2 Prozent ausgeht, kommen Zahlen in den USA auf 2,0 bis 16,1 Prozent. Zudem haben neurodivergente Personen meist nicht nur eine, sondern mehrere Diagnosen, also zum Beispiel ASS und ADHS und Dyskalkulie oder Dyspraxie. Dazu kommen bei ihnen gehäuft weitere psychische Symptome vor, wie Angststörungen, Gender-Dysphorie, Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen oder Suchterkrankungen. Und schliesslich leiden sie gehäuft an körperlichen Leiden wie Allergien, Schlafproblemen, Migräne, gastrointestinalen Beschwerden und vielen mehr.
Zunehmend stellt sich auch die Frage, wie gut die Diagnosewerkzeuge sind. Mädchen mit ADHS zeigen ihre Hyperaktivität beispielsweise nicht unbedingt mit dem «Zappelphilipp-Syndrom». Sondern ihre Hyperaktivität richtet sich eher nach innen, zum Beispiel in Form von rasenden Gedanken. Auch gelingt es ihnen möglicherweise eher, ihr ADHS zu verbergen, um «normal» zu erscheinen – wenn auch oft unter grosser Anstrengung.
«Superpower» oder ein Leiden?
Die Klimaaktivistin Greta Thunberg nennt ihr Asperger ihre «Superpower», wie der Snowboarder und Singer-Songwriter Pat Burgener sein ADHS. In den letzten Jahren wurde Neurodivergenz fast zu einem Hype. «Haben jetzt alle ADHS?», fragte der deutsche Arzt, Moderator und Kabarettist Eckart von Hirschhausen in einer sehenswerten Reportage (in der auch er mit Anteilen von ADHS diagnostiziert wurde).?
Doch Neurodivergenz ist nicht einfach nur «chic». Betroffene leiden oft und zum Teil jahrelang. Sie erhalten Fehldiagnosen wie Burn-out oder Depressionen, manche entwickeln Suchterkrankungen oder werden delinquent. Zum Teil werden sie von Ärzt:innen nicht ernstgenommen. Diese Erfahrung machte auch Pflegefachfrau Tabea Wick, die am Arbeitsort offen mit ihrem ADHS umgeht (s.?ächste Seite). Ein Arzt habe einem Patienten, der bei sich ein ADHS vermutete, drei Fragen gestellt, von denen der Patient zwei bejahte. Damit sei für den Arzt die Sache erledigt gewesen. Dabei habe der Patient wohl einfach gute Strategien entwickelt, um damit umzugehen.
Trotz des öffentlichen Hypes sind nicht alle offen mit ihrer/ihren Diagnose(n), nicht in der Allgemeinheit und erst recht nicht gegenüber den Arbeitskolleg:innen. Denn die Stigmatisierung von Neurodivergenz ist eine Tatsache. Manche neurodivergente Menschen – ob nun mit oder ohne Diagnose – finden ihre Nische, in der sie ihre Stärken nutzen können. Sie haben funktionierende Coping-Strategien entwickelt und ihr Anderssein wird in ihrem privaten und beruflichen Umfeld akzeptiert und unterstützt. Wenn das nicht gelingt, oder auch wenn keine Diagnose gestellt wird, kann der Leidensdruck zu gross sein und unter Umständen zu massiven körperlichen, psychischen und sozialen Problemen führen.
Leiden verhindern, Ausgrenzung beenden
Die Neurodiversitätsbewegung hat unter anderem zum Ziel, dass neurologische Varianz ausgewogener und weniger stereotypisiert wahrgenommen wird. Sie fordert für neurodivergente Menschen einen Platz in der Gesellschaft, wo ihre Stärken geschätzt und ihre Bedürfnisse erfüllt werden.
Neurodiversität ist daher auch für die Pflege relevant, wie Timmy Frawley und Kolleginnen im Journal of Clinical Nursing schreiben?4 Zum einen, weil Neuro-Normativität «die Marginalisierung von neurodivergenten Menschen aufrechterhalten kann». Denn neurodivergente Menschen gehen unter Umständen anders mit dem Gesundheitswesen um. Ihre Art zu interagieren, zu sprechen, Dinge wahrzunehmen und Informationen zu verarbeiten, kann die Interaktion mit dem Gesundheitspersonal beeinflussen. Darum bestehe das Risiko, dass körperliche Krankheiten nicht diagnostiziert werden oder eine Neurodivergenz fehldiagnostiziert werde. «Eine verpasste körperliche Diagnose aufgrund unzureichender Kommunikation oder diagnostischer Verschleierung kann zu einer erhöhten Morbidität und frühen Mortalität beitragen.»
Zum anderen sei auch die Profession Pflege selbst betroffen. Zwar habe es in den letzten Jahren bedeutende Schritte zu mehr Diversität und Inklusion gegeben, was Gender, Ethnizität oder sexuelle Orientierung betrifft, schreiben die genannten Autor:innen. «Wir sind der Auffassung, dass Neurodiversität ein letztes Bollwerk der Ausgrenzung sein kann.» Das britische Institut für Neurodiversität geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl von neurodivergenten Fachpersonen in allen Branchen einiges höher ist als angenommen. Es gebe keinen Grund dafür, dass das im Gesundheitswesen anders sei. Doch viele neurodivergente Fachpersonen stehen nicht zu ihrer Neurodivergenz, weil sie fürchten, diskriminiert zu werden. Sie maskieren, um als «normal» durchzugehen. Sie verbergen ihre wahre Persönlichkeit und gefährden damit ihr emotionales und psychisches Wohlbefinden.
Potenziale nutzen
Das Royal College of Nursing vermutet, dass der Anteil von neurodivergenten Menschen im Gesundheitswesen eher noch höher ist als in anderen Bereichen. Arbeitgebende sind jedoch für die Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Angestellten verantwortlich. Schon deswegen wären sie dazu verpflichtet, Anpassungen zu machen und sich gegen Diskriminierung und Mobbing einzusetzen, damit auch neurodivergente Menschen am Arbeitsplatz aufblühen können (oder sich ihren Berufswunsch erfüllen können).
Neurodivergente Menschen haben mit einigen Dingen Schwierigkeiten, aber auch wertvolle Potenziale (s.?abelle): Empathie, die Fähigkeit, neue Wege und kreative Lösungen zu sehen, Details und Muster zu erkennen, in Notfällen fokussiert und konzentriert zu bleiben: Wenn sie diese Stärken einbringen können, kann die Gesundheitsversorgung, die Pflege, und die Gesellschaft ganz allgemein nur gewinnen.
Dieser Schwerpunkt erschien in der Ausgabe 7/2024 der Krankenpflege, der Fachzeitschrift des SBK.
11 Mal pro Jahr erscheint die dreisprachige Fachzeitschrift für die Pflege. Mitglieder des SBK erhalten sie frei haus. Andere Interessierte können die Fachzeitschrift abonnieren. Ein Jahresabonnement kostet 99 Franken.