Tanzen als Lebenselixier

Die Kombination aus Rhythmus, musikalischem Gehör, Choreografie, Koordination und Ausdauer fördert und fordert nicht nur Körper und Geist. Tanzen und Tanz­therapie haben auch einen positiven Effekt auf die soziale Interaktion und das Selbstwertgefühl. Und sie können ­neurodegenerative Krankheiten positiv beeinflussen.

Text: Urs Lüthi

Die Bewohnerin mit fortgeschrittener Demenz sitzt in sich gekehrt im Rollstuhl, bevor sie von der Pflegenden Anita Rothenbühler zum Tanz aufgefordert wird. Nun beginnt sie sich im Dreivierteltakt zu bewegen und schaut zufrieden in die Runde. An diesem Tanz- und Singnachmittag im Alterszentrum Domicil Weiermatt im bernischen Münchenbuchsee blüht nicht nur sie auf (s. Reportage, S. 14). Etwas Besonderes passiert auch im Lausannner Nachtklub No Name, wenn sich viermal pro Jahr rund 50 Bewohner:innen von Alters- und Pflegeheimen mit jüngeren Tänzer:innen treffen. «Man spürt ein Feuer in den Blicken, als ob die Atmosphäre Erinnerungen weckt», formuliert es ein Teilnehmer. Ähnlich ist es an der Technoparty in der Casa Solari, dem Alterszentrum in Gossau, wo zwischen zehn und 90 Jahren alle mitmachen.

Energiegeladen, euphorisch und entspannt

Es ist offensichtlich: «Tanzen macht glücklich», wie es die Neurobiologin Lucy Vincent in ihrem gleichnamigen Buch schreibt. Für sie ist klar und auch wissenschaftlich bewiesen, dass die Kombination aus Rhythmus, musikalischem Gehör, Choreografie, Koordination und Ausdauer nicht nur die körperliche Leistungsfähigkeit fördert, sondern auch den Denkapparat fordert. Und im Unterschied zu vielen anderen sportlichen Aktivitäten, so Vincent, bewegten sich die meisten Tänzer:innen immer um des eigenen Vergnügens willen und nicht, weil sie sich zum eigenen Wohl quälen müssen.
Hobbytänzer:innen berichten oft, sie fühlten sich nach dem Tanzen energiegeladen, euphorisch und gleichzeitig entspannt. Es gibt unzählige Erklärungsansätze, wieso Tanzen zum Wohlbefinden beiträgt und sich positiv auf die physische und psychische Gesundheit auswirkt. Valentin Benzing vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern weist auf den physiologischen Zusammenhang hin (NZZ am Sonntag, 16.10. 2022). Durch Bewegung gelangt mehr Sauerstoff ins Gehirn und es kommt zur Ausschüttung von Hormonen und Nervenwachstumsfaktoren, was zu besseren kognitiven Leistungen führt (s. auch Box rechts).
Da stellt sich die Frage, wieso in unserem Kulturkreis nur eine kleine Minderheit regelmässig tanzt und viele es gar nicht probieren – mit dem Standardausrede, sie hätten «zwei linke Füsse»? Ein Grund könnte sein, dass wir in einer eher körperfremden und leistungsorientierten Kultur leben, vermutet die Tanztherapeutin Brigitte Züger (s. Interview S. 16). Dabei ist uns das Rhythmusgefühl in die Wiege gelegt. Wir alle haben schon ein Baby oder Kleinkind gesehen, das sich mit Freude im Takt zu Musik bewegt. Tanzen ist offensichtlich ein verborgener, natürlicher Instinkt, der hilft, Emotionen auszudrücken und zu kommunizieren.

Soziale Interaktion und Selbstwertgefühl

Tanzen hat noch mehr zu bieten: Julia F. Christensen, Psychologin, Neurowissenschaftlerin und ehemalige Profi-Tänzerin, betont den Effekt der sozialen Interaktion: «Wenn wir uns gemeinsam zu Musik bewegen, stellt sich irgendwann ein Verbundenheitsgefühl ein, wir fühlen uns plötzlich als Teil eines Ganzen.» («Gehirn & Geist», 04/2020) Diese Empfindung komme vor allem dadurch zustande, dass wir uns beim Tanzen synchron bewegen, einander anlächeln und berühren. Tanzen kann auch ein probates Mittel gegen Einsamkeit sein. Wer die ersten Hemmungen überwindet, etwas Geduld hat und entdeckt, dass es mit den Tanzbewegungen klappt, wird zudem sein Selbstwertgefühl verbessern.

Auswirkungen auf neurodegenerative ­Krankheiten

Es gibt immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse, die erstaunliche Auswirkungen des Tanzens auf neurodegenerative Krankheiten wie Parkinson oder Alzheimer zeigen. So hat zum Beispiel die Neurowissenschaftlerin Corinne Jola von der University of Abertay Dundee (Schottland) in ihren Studien gezeigt, dass Tanzen die Symptome von Menschen mit Parkinson reduziert – und ihnen Lebensfreude und etwas Selbstständigkeit zurückgibt («Gehirn & Geist», 04/2020).
In Europa und den USA gibt es zahlreiche Tanzgruppen für Parkinson- und Demenzpatient:innen. Eine Studie von Hewa H. Kalyani et al. (2020) weist nach, dass die funktionelle Mobilität, die manuelle Geschicklichkeit, die Schritt­geschwindigkeit und die kognitiven Fähigkeiten bei Menschen mit einer Parkinson-Krankheit ­verbessert werden.
Andere Studien geben Hinweise, dass Tanztherapien die Symptome von Depressionen und Angststörungen reduzieren können. Positive Effekte festgestellt wurden auch bei multipler Sklerose, posttraumatischen Belastungsstörungen, Schizophrenie oder nach Schlaganfällen. Für evidenzbasierte Erkenntnisse in diesen Bereichen sind jedoch zusätzliche Studien nötig.

Vielfältige Tanzstile mit diversen Regeln

Auch die Frage, welcher Tanzstil welche spezifischen Auswirkungen hat, ist kaum untersucht und wird wahrscheinlich auch individuell sehr unterschiedlich wahrgenommen. Jeder Stil – ob Bachata, Ballett, Breakdance, Cha-Cha-Cha, Hiphop, Lindy Hop, Salsa, Tango, Walzer, oder zeitgenössischer Improvisationstanz (um nur einige zu nennen) – beansprucht spezielle Muskelgruppen und unterliegt diversen sozialen und kulturellen Regeln. Sicher ist nur: Tanzen ist ein Lebenselixier, das das körperliche, psychische und soziale Wohl­befinden stärkt. Da bleibt nur eine Empfehlung: Tanzen Sie!

Dieser Schwerpunkt erschien in der Ausgabe 2/2023 der Krankenpflege, der Fachzeitschrift des SBK.

11 Mal pro Jahr erscheint die dreisprachige Fachzeitschrift für die Pflege. Mitglieder des SBK erhalten sie frei haus. Andere Interessierte können die Fachzeitschrift abonnieren. Ein Jahresabonnement kostet 99 Franken.

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Tanzen regt viele Prozesse an

Tanzen hebt sich deshalb von anderen Fitnessprogrammen ab, weil es sehr viele unterschiedliche körperliche und ­ko­gnitive Fähigkeiten anregt und mobilisiert. Bei vielen ­Einzel-, Paar- und Gruppentänzen dehnen wir Muskeln und Faszien und atmen wir tief ein. Die Muskeln werden ­gestärkt, das Lungenvolumen nimmt zu, der Herzmuskel wird trainiert und der Solarplexus gedehnt. Durch den Stressabbau sinkt der Cortisolspiegel, Kalorien werden verbrannt und Giftstoffe schneller abgebaut. Die Beweglichkeit bleibt erhalten, das Gleichgewicht und die Koordination der ­Bewegungen werden trainiert. Tanzen stimuliert jedoch auch die Programmierung neuronaler Netze im Klein- und Grosshirn. Zahlreiche Gehirn-areale sind involviert, die es erst ermöglichen, uns durch ein komplexes Zusammenspiel im Takt zur Musik kreativ zu bewegen und eingeübte Choreografien zu speichern.

Ein geschenkter Tag

Ob zu Fuss oder im Rollstuhl, ob rüstig oder beeinträchtigt – die Nachmittags­­veranstaltung «Singen, Tanzen, Lachen» berührt die Teilnehmenden und bringt ­­Freude und Bewegung ins Alterszentrum Domicil Weiermatt in Münchenbuchsee.

Text: Urs Lüthi

«Hello Mary Lou»: Bereits eine Stunde vor Beginn der beliebten Mittwochnachmittags-Veranstaltung «Singen, Tanzen, Lachen» hat Hermann Moser sein Elektropiano installiert und ist fleissig am Üben. Durch die Gänge des Domicil Weiermatt in Münchenbuchsee hallt nicht nur der Hit von Ricky Nelson aus dem Jahr 1961. Die Playlist von Hermann Moser ist lang. Darauf stehen Stimmungsschlager wie «Rosamunde», das Seemanns-Lied «La Paloma» von Freddy Quinn oder der Ohrwurm «Das Feuer der Sehnsucht», den die Schlagersängerin Francine Jordi zusammen mit dem Jodlerklub Wiesenberg singt. Trotz zunehmender Demenzerkrankung kann Hermann Moser aus seinem breiten Repertoire schöpfen, mit dem er in jungen Jahren als Unterhaltungsmusiker – auch mit dem Saxophon – an Anlässen aufgetreten ist.

Animation mit pflegerischem Hintergrund

Eine Bewohnerin mit Demenz wartet bereits im Rollstuhl und wiegt ihre Puppe Marcel im Takt. Christine Stoll und Anita Rothenbühler, die den Nachmittag als Verantwortliche «Kultur und Alltag» leiten, sind zur gleichen Zeit von Tür zu Tür unterwegs und führen Bewohnerinnen und Bewohner im Rollstuhl in den Raum, wo sie ringsum im Kreis ihren Platz finden. Andere kommen selbstständig, ohne oder mit Rollator, den sie vor dem Raum parkieren. Christine Stoll, die auch Erfahrung als Clownin hat, und Anita Rothenbühler, die an privaten ­Anlässen als Sängerin auftritt, begrüssen alle Eintreffenden persönlich mit Namen. Beide haben langjährige Erfahrung in der Pflegepraxis gesammelt, bevor sie im Domicil als Quereinsteigerinnen begonnen haben, das vielfältige Programm «Kultur und Alltag» mitzugestalten.

«Jetzt wollen wir ein Tänzchen schwingen»

Nach der Begrüssung und dem «Happy Birthday» für eine Jubilarin im Kreis fordert Christine Stoll die Anwesenden auf: «Jetzt wollen wir ein Tänzchen schwingen.» Hermann Moser stimmt «Siebenmal in der Woche» an, ein Lied des anno dazumal beliebten Unterhalters Vico Torriani. Fast alle machen mit – zu Fuss oder im Rollstuhl, sie schwenken farbige Chiffontücher und geben sich die Hände. Alles geschieht sehr spontan, viele Augenpaare strahlen. Nun ist Singen angesagt, Rhythmusinstrumente werden verteilt: Rasseln mit Glöckchen, Schellenkränze, Hufeisen mit Schlagstöcken, ein Melkstuhl mit Taktstock. Ein Bewohner, der gerne zur Musik die Fahne schwingt, erhält eine Schweizerfahne. Alle singen aus voller Brust das traditionelle Schweizer Volkslied «Mir Senne heis luschtig». Beim «Hudiria holeia, hudiria holeia» steigen die Stimmen und die Stimmung deutlich an. Dann ist es Zeit für das «Humortag-Lied», nach der Melodie von «Zogen am Boge». «Wir sind keine jammernden Rentner, wir sind ganz starke Kämpfer», singen die rund 25 Teilnehmenden und machen sich gegenseitig Mut.

Ein Geschenk, Witze und der Sternenträumer

An diese Stelle passt ausgezeichnet der selbst geschriebene Text von Gerda Staudenmann, einer aufgeweckten 89-Jährigen. Ihre Geschichte, die sie vorliest, heisst «Das Geschenk» und endet mit der Quintessenz, dass jeder Tag, jeder Morgen ein Geschenk ist, das wir annehmen können und müssen. Nach einigen Witzen von Frau Staudenmann – nicht alle jugendfrei – singt Anita Rothenbühler den «Sternenträumer», in der Version der deutschen Schlagersängerin Andrea Berg und des Schweizer Mundartrockers Gölä – das Lied handelt von der Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen. «Nun ist es aber wieder Zeit für mehr Rhythmus», schlägt Christine Stoll vor und fordert zum Tanz auf. Beim Lieblingshit «Tanz mit mir Corinna» von den Paldauern, der österreichischen Party-Band, kommt erneut Bewegung in die Runde. «Darf ich bitten» fordern die wenigen anwesenden Männer ihre Mitbewohnerinnen auf. Wer nicht gehen kann, schunkelt mit. Nun greift auch Hermann Moser wieder in die Tasten und intoniert im Dreivierteltakt den Zillertaler-Schlager «Alles was du brauchst auf der Welt, ist Liebe».

Fingerspitzengefühl und viele Emotionen

Manchmal sei viel Fingerspitzengefühl nötig, damit sich alle in der Runde wohlfühlen, sagt Christine Stoll. Damit sie und Anita Rothenbühler wissen, wie es den Bewohnerinnen und Bewohnern geht, nehmen sie regelmässig an Pflegerapporten teil. Es gebe immer wieder sehr schöne Momente und unterschiedliche Emotionen hätten Platz, erzählen sie. Und Lachen und Weinen sind manchmal nahe beieinander. Das wird deutlich, als das immer wieder gewünschte Jodellied «E gschänkte Tag» von Adolf Stähli ertönt. Manch einer und eine verdrückt eine oder mehrere Tränen. «Wenn d Sunne hinger em Jura ungergeit» singt zum Abschluss der Seeländer Mundart-Sänger George in seinem Lied «Hie bini deheim». Das ist das passende Stichwort: «Jetzt gehen wir wieder heim», sagt eine der Teilnehmerinnen und ergreift den parkierten Rollator. Ihre Mitbewohnerinnen und -bewohner tun es ihr gleich und gehen zu Fuss oder im Rollstuhl zurück ins Zimmer. Bald gibt es «Znacht», am Ende eines geschenkten Tages.

«Mit Tanztherapie lassen sich die eigenen Ressourcen aktivieren»

Mittels Tanztherapie wird die Selbstwahrnehmung gefördert und können blockierte physische und psychische Vorgänge im Körper ihren organischen Fluss finden, sagt die Tanztherapeutin Brigitte Züger. Mit ihrem Bildungsinstitut will sie erreichen, dass Tanztherapie einen gleichwertigen Status wie andere Behandlungsmethoden erhält.

Interview: Urs Lüthi

Krankenpflege: Was macht die Faszination Tanzen aus?
Brigitte Züger: Vieles: Die meisten Menschen lächeln, wenn sie tanzen. Tanz hat viele Wirkungen: Er lässt uns unsere Vitalität und unsere Lebenskraft erleben, er gibt uns ein gutes Körpergefühl, wir können durch den Tanz das erleben, was wir nicht durch Worte ausdrücken können. Er vermittelt uns Gruppen­zugehörigkeit und Gemeinsamkeitserleben. Die grosse Faszination für mich ist, dass Tanz von alleine entsteht – wenn ich mir erlaube, mit meiner Bewegung zu spielen, indem ich die Bewegung intuitiv fliessen lasse. Ich kann aber auch bestimmen oder entscheiden, welche Bewegungen ich ausführe oder unterlasse. Das gibt mir die Entscheidungsfreiheit für und über mich selbst. Die Mischung dieser zwei Möglichkeiten ist die Verbindung von Erleben und Gestalten, Zulassen und Entscheiden, beides wichtige Elemente für unser Dasein als freie und eigenständige Menschen.

Was bringt Menschen zum Tanzen, wo liegen die Wurzeln des Tanzes?
Tanz kann kathartischen Charakter haben. Denken Sie an ­Rumpelstilzchen, als es erkannt hat, dass die Prinzessin die Goldfäden von der Spreu trennen konnte: Es ist so wütend,
dass es sich in den Boden hineintanzt. Tanz kann Ausdruck einer Kultur oder eines kulturellen oder sozialen Bedürfnisses sein: Hip Hop entstand in den 80er Jahren als Ausdruck der schwarzen Jugendkultur in Amerika – oder der Walzer, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Befreiung und Revolution bedeutete. Tanz kann Menschen aber auch in metaphysisches Erleben schwingen. Ein gutes Beispiel sind dafür die Drehderwische oder die Tänze der Schamanen. Tanz kann heilende Kräfte integrieren, denken Sie an chinesische Akupunkturbehandlungen. In China lassen die Ärzte die Patient:innen nach der Behandlung tanzen.

Warum ist Tanzen besser als andere Arten von Bewegung?
Man kann sagen, dass Tanz die «bessere» Bewegung ist, weil er auch kognitive und emotionale Aspekte, nebst dem Selbstgefühl fördert. Für jemand, der Muskeln aufbauen muss, ein Kardio-Training braucht oder einfach Stress durch Bewegung abbauen will, ist Tanz sicher nicht die optimale Bewegungsform. Wenn aber jemand einen besseren Zugang zum eigenen Erleben respektive zum eigenen Ausdruck, zur Emotions- und Selbstregulation möchte, ist Tanz die «bessere» Bewegung.

Mit «Ich kann nicht tanzen» oder «Ich habe zwei linke Füsse» reagieren viele Menschen, wenn sie zum Tanzen aufgefordert werden. Verstehen Sie diese Angst?
Ja, ich verstehe das sehr gut und es begegnet mir bei Klien­t:innen immer wieder. Das hat (leider) mit zwei tiefgründigen Faktoren zu tun: Wir leben in einer Kultur, die eher körperfremd, und ziemlich leistungsorientiert ist. Ersteres verhindert ein ­zuverlässiges Selbstgefühl, zweiteres macht es schwierig, «gut genug» – nämlich so wie ich bin – zu sein. «Ich kann nicht tanzen» heisst vor diesem Hintergrund vielleicht: Ich kann nicht so tanzen, dass ich damit gut genug bin. Vielleicht heisst es aber auch: Ich schäme mich, meinen Körper zu spüren wie er ist – weil er nicht sein darf wie er ist.

Was ist der Unterschied zwischen Tanzen als Freizeitaktivität und Tanztherapie?
Die Tanztherapie hat die Aufgabe, einen Heilungsprozess – Heilen bedeutet ganz werden – einzuleiten. In erster Linie besteht dieser Heilungsprozess darin, die Klient:innen in einem siche-ren Rahmen zu begleiten, mit dem Ziel, das Selbsterleben und den authentischen Ausdruck wieder zu gewinnen, zu vertiefen oder zu erweitern. Das kann vom Erleben, dass der Boden die Füsse trägt, über das Erleben, dass genügend Raum zum Einnehmen vorhanden ist, bis hin zum Erleben gehen, dass eine Muskelverspannung oder ein Schmerz eigentlich ein im Körper festgehaltenes traumatisches Erlebnis ist.

Wen sprechen Sie an mit einer Tanztherapie an, auf welche Krankheitsbilder können Sie Einfluss nehmen?
In erster Linie ist für uns nicht das Krankheitsbild massgeblich, sondern die (innere) Haltung des Menschen zu einem Krankheitsbild. Er nimmt dann Einfluss auf seine Krankheit. Ist er ­bereit, mit sich selbst zu arbeiten? Wird das möglich, streben wir unsere Metaziele Coping und Selbstkompetenz an. Für ein Coping schauen wir, wie ein Mensch mit sich und seinem ­(kranken) Körper umgeht. Arbeitet er gegen oder mit ihm? ­Warum tut er das? Welche Ressourcen müssen wir aktivieren, welche Emotionen müssen freigesetzt werden, damit Coping möglich wird?

Was bewirkt Tanztherapie?
Tanztherapie als solches fördert die Selbstwahrnehmung. Nur durch sie ist es möglich, selbstkompetent zu werden. Oder anders gesagt: Nur wenn ich fühle und erlebe, ob mir etwas gut oder nicht gut tut , kann ich mich dafür oder dagegen entscheiden. Das ist meines Erachtens der Heilprozess und deckt sich mit der dritten Variante der Diskussion, was Gesundheit ­gemäss Definition der WHO ist. Gesundheit hängt demnach davon ab, ob der Mensch ein Gleichgewicht in sich selbst und mit seiner Umwelt hergestellt hat.

Tanzen löst positive und vielleicht auch negative Emotionen aus? Was ist hier Ihre Rolle als Tanztherapeutin?
Negativ heisst in der Physik: Der Energiefluss ist unterbrochen; positiv heisst: Der Energiefluss ist frei. Psychologisch gesehen labeln wir Emotionen, die wir nicht leben wollen oder dürfen, als negativ. Das macht Sinn, denn solche Emotionen unterdrücken wir. Das blockiert physische und biologische Vorgänge im Körper. Meine Rolle als Tanztherapeutin ist es, zusammen mit dem /der Klient:in herauszufinden, warum im Laufe des Lebens eine Emotion blockiert, also negativ geworden ist. Das sind manchmal anspruchsvolle Prozesse, weil sie durch Defizite oder Traumata entstanden sind.

Was ist Ihre Vision: Welchen Platz sollten Tanzen und ­Tanztherapie in unserem Gesundheitssystem haben?
Die Tanztherapie hat bereits genügend Evidenz für ihre Wirksamkeit. Das bedeutet, dass wir unseren Platz im Gesundheitssystem vertreten könnten. Aufgrund dessen ist meine Vision, dass wir bei den Player:innen im Gesundheitssystem mehr ­Bekanntheit und Anerkennung gewinnen sollten. So würde sich der richtige Platz für die Tanztherapie automatisch ergeben. ­Unter dem «richtigen Platz» verstehe ich die Gleichwertigkeit mit anderen bereits etablierten Behandlungsmethoden, wie zum Beispiel ­Ergotherapie, Physiotherapie, aber auch psychotherapeutischen Verfahren.

Dipl. Kunsttherapeutin, Bewegungs- und Tanztherapie

Brigitte Züger ist Direktorin der ZOE SCHOOL in Basel, die einen vorbereitenden Kurs zur Hinführung an die Eidg Höhere Fachprüfung Kunsttherapie, Bewegungs- und Tanztherapie anbietet. Alle darin enthaltenen Kurse stehen auch externen Teilnehmer:innen als allgemeine Weiterbildungen zur Verfügung. Spezifische Weiterbildungen richten sich an Psycholog:innen, Pädagog:innen und Tanzkünstler:innen. Brigitte Züger liess sich zuerst zur Bewegungs­pädagogin ausbilden, bevor sie ihr Tanzstudium in New York absolvierte. Zurück in Basel studierte sie Heilpädagogik. Danach, in der Ausbildung zur integrativen Tanz- und Bewegungstherapeutin, hat sie einerseits gelernt, ihr psychisches Erleben mit ihrer Biografie zu verbinden, was ein beachtlicher Sinngewinn bedeutete. Anderseits lernte sie, Bewegung so anzuleiten, dass solche Sinngewinnungsprozesse für einen therapeutischen Prozess eingeleitet und unterstützt werden können. Brigitte Züger arbeitete von 1994 bis 2012 in der Reha Rheinfelden, wo sie eine Tanztherapiestelle aufbaute und zehn Jahre das Team Kreative Therapie leitete. Sie führt ebenfalls eine Praxis für Tanz- und Bewegungstherapie in Basel.

 

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