Einstehen für Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und Frieden

Ob die gesundheitlichen Folgen von Naturkatastrophen, Klimawandel, Armut, bewaffneten Konflikten, Epi- und Pandemien oder auch der Profitmaximierung im Gesundheitssystem: Pflegefachpersonen sind in der vordersten Reihe, um Betroffene zu unterstützen. Doch sie sollten auch die Ursachen aufzeigen, Missstände anklagen und Gerechtigkeit einfordern – kurz: sich einmischen.

 Text: Melanie M. Klimmer, Foto: Guillaume Duez

 

Was kann Pflegefachpersonen Orientierung für ihren Beruf geben in einer Welt, in der humanitäre Krisen, ausgelöst durch bewaffnete Konflikte, Naturkatastrophen, Epi- und Pandemien und soziale Ungleichheit zunehmen? Welche Aufgaben kommen ihnen zu, wenn sie immer die Ersten sind, welche die in Not geratenen Menschen versorgen und begleiten? Welche Rolle spielen sie für Prävention, Erhalt und Wiederherstellung von Frieden, sozialer Kohäsion und die Einhaltung der Menschenrechte? Was kann Pflegefachpersonen Orientierung für ihren Beruf geben in einer Welt, in der humanitäre Krisen, ausgelöst durch bewaffnete Konflikte, Naturkatastrophen, Epi- und Pandemien und soziale Ungleichheit zunehmen? Welche Aufgaben kommen ihnen zu, wenn sie immer die Ersten sind, welche die in Not geratenen Menschen versorgen und begleiten? Welche Rolle spielen sie für Prävention, Erhalt und Wiederherstellung von Frieden, sozialer Kohäsion und die Einhaltung der Menschenrechte? 


Paradigmenwechsel

Angehörige der Pflegeberufe werden oft am Ende der Behandlungskette gesehen, nämlich dort, wo Kriegsfolgen und Klimawandel zu bewältigen und zu beseitigen sind, wo soziale Schieflagen wie Armut und soziale Ungleichheit bereits bei den Menschen angekommen sind und Frieden wiederherzustellen ist. Pflegefachleute auch da zu sehen, wo Missstände ihren Anfang nehmen, sie als sozial- und gesellschaftspolitisch Gestaltende und Handelnde mit eigener Expertise und Rechenschaftspflicht wahrzunehmen, ist noch nicht überall im gesellschaftlichen Bewusstsein von Pflege als Profession angekommen (Williams SD et al., 2018; Rasheed et al., 2020 zit. n. Sharpnack et al., 2022). An dieser Stelle ist ein Paradigmenwechsel, auch in der Profession selbst, überfällig. 


Im Kampf gegen Missstände

Die Menschen, die zu Christine Wegener kommen, sind oft schwer gezeichnet von Krieg, überstandenen Gewalt- und Fluchterfahrungen. Vor 15 Jahren hat die Pflegefachfrau, nach einer Idee von Prof. Dr. August Stich, dem Chefarzt der tropenmedizinischen Abteilung, den Medizinischen Dienst der Missioklinik in einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete in Würzburg auf den Weg gebracht. 2015 war ihr kleines Team für mehr als 1000 Migrant:innen oft die erste medizinische Anlaufstelle. «Ich habe all die Folgen von Kriegs- und Terrorgewalt regelmässig vor Augen und die machen mir bewusst, wie wertvoll Frieden ist», berichtet sie. «Ich erinnere mich an eine junge Lehrerin aus Afghanistan, die am letzten, noch erlaubten Unterrichtstag von den Taliban aus ihrer Schule gezerrt und dort so massiv verprügelt wurde, dass sie ihr ungeborenes Kind verlor und davon schwer traumatisiert ist. Indem ich diesen Menschen helfe, für deren medizinische Versorgung eintrete, ist meine Arbeit zugleich ein politisches Statement für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte», sagt die Pflegefachfrau.


Weichenstellungen für medizinische Hilfe

«Kämpfe gegen Missstände, Ungerechtigkeiten und Ablehnungen, die Geflüchteten widerfahren, wenn sie mehr als die medizinische Akutbehandlung benötigen, sind für das Team und mich alltäglich», sagt sie Mitte März im Interview. «Selbst in den westlichen Industriestaaten ist der Zugang zu medizinischer Hilfe wegen gesetzlicher und bürokratischer Hürden eingeschränkt», erklärt sie. Es ist die Regel, dass Mitarbeitende in Sozialbehörden nach Aktenlage und ohne medizinische Kenntnisse über die Ausstellung von Krankenscheinen für Geflüchtete befinden, die einer Ärztin oder eines Arztes bedürfen. Die Kooperation gelingt im Würzburger Modell besser, und dennoch: «Jeden Tag hängt es von unserer professionellen Ersteinschätzung und unserem Einsatz ab, wer eine medizinische Weiterbehandlung bekommt», fährt sie fort. «Und unsere Beobachtungen beeinflussen die ärztlichen Therapieentscheidungen.»


Dorthin, wo die Not am grössten ist

«Als wir Hunderte Menschen innerhalb weniger Stunden aus Seenot gerettet und auf dem Rettungsschiff Sea-Eye 4 medizinisch behandelt haben, fokussierte ich mich besonders auf die vulnerablen Personen, die ihre Beschwerden nicht unbedingt eigenständig äussern können», berichtet Marlene Fiessinger von ihrem Einsatz für die Seenotrettungsorganisation Sea-Eye e.V. auf dem Mittelmeer. «Selbst die vielen unbegleiteten Minderjährigen und die Schwangeren tragen Spuren von Folter und Misshandlung.» Die Pflegefachfrau arbeitet in der Intensivstation eines Spitals der Akutmedizin im Berliner Süden; derzeit nimmt sie Elternzeit in Anspruch. Ihren Jahresurlaub verbrachte sie mit humanitären Auslands­einsätzen. «Mein Beruf trägt in sich die Verpflichtung, alle Menschen gleich zu behandeln, ob im geschützten Spital­alltag oder auf einem Rettungsschiff», sagt die 33-Jährige. «Die Neutralität als Pflegefachperson lässt sich verwandeln in eine tolerante, faire und Gerechtigkeit suchende Grundhaltung, mit der wir unseren Mitmenschen grundsätzlich begegnen.» 


Wenn Perspektivlosigkeit krank macht

Gerti (Name geändert) ist wohnungslos. Sie sammelt umherliegende Kleidungsstücke um einen Rot-Kreuz-Container ein, um sie in Plastiktüten zu packen. Dass man ihr die leiblichen Kinder nahm, brach ihr das Herz. Ihre lange Winterjacke, der dunkle Rock und die dicke Wollstrumpfhose sind farblich abgestimmt. Die «Strassenmale» – Laufmaschen und Löcher – trägt sie mit viel Würde. Gerti ist eine von 8'000 wohnungslosen Frauen in Deutschland. Das Leben am Rande der Gesellschaft bedeutet für sie und viele andere den ständigen Kampf um Existenzberechtigung: Soziale Ausgrenzung, Stigmatisierung, existenzielle Ungewissheit und Perspektivlosigkeit bestimmen ihren Alltag und bleiben nicht ohne gesundheitliche Folgen. Eine im Jahre 2020 von Médecins Sans Frontières (MSF) und dem Institut Pasteur veröffentlichten Studie für das Département Île-de-France (Ballungsraum Paris) mit allein 50'000 wohnungslosen Menschen, stellte als ein Ergebnis fest, dass mehr als jede:r Fünfte der 829 wohnungslosen Proband:innen an Grunderkrankungen wie Hypertonie oder Diabetes leidet (Roederer et al. 2020, S.5). 
Arme Menschen sterben früherÄhnliche Auswirkungen auf die Gesundheit lassen sich bei Sans-Papiers ohne sicheren Bleibestatus, Arbeitsmigrant:innen und Sozialhilfebeziehenden feststellen. Das Ergebnis einer Studie von Forschenden der Berner Fachhochschule aus dem Jahre 2019 ist, dass Sozialhilfebeziehende weit häufiger an chronischen Erkrankungen und gesundheitlichen Einschränkungen leiden als die Vergleichsgruppe ohne Leistungs­bezug. Dabei wirke sich die Dauer des Bezugs zusätzlich nachteilig aus (BFH, 2019). Gerade jene, die besonders auf medizinische Unterstützung und Solidarität angewiesen sind, wie Sans-Papiers und Menschen ohne Krankenversicherung, bleiben oft von den öffentlichen Gesundheitssystemen weitgehend unerreicht. Und wo dieser Zugang verwehrt ist, müssen private Hilfsorganisationen, wie etwa die vom SRK betriebene Anlaufstelle Meditrina in Zürich oder Armut und Gesundheit in Deutschland e.V., für die Versorgungsdefizite einspringen und mit vertraulichen medizinischen Angeboten auch für diese Menschen eintreten.


Wenn der Status über Gesundheit entscheidet

In Ländern des globalen Südens sind es oft die Transport- und Behandlungskosten, die ärmeren Menschen den Zugang zu medizinischer Hilfe erschweren oder diesen verhindern. «Jede noch so geringe Gebühr schliesst jene Menschen aus, um die wir uns am meisten kümmern wollen: die ärmsten und am stärksten erkrankten Patienten», schreibt MSF-Arzt Tankred Stöbe (2019, S.48). Auch die statusunabhängige Behandlung und Versorgung in den Gesundheitssystemen wird nicht immer gelebt: In Nepal würden eher Militärs aus unzugänglichen Gebieten für ein Familienwochenende nach Hause geflogen als junge Frauen mit lebensbedrohlicher Blutung in die nächste Klinik gebracht, berichtet der Berliner Intensivmediziner von einem Auslandseinsatz. «In den ländlichen und ärmeren Regionen Afrikas sind es oft mobile Pflege­fachpersonen, die die medizinische Versorgung auch ohne Ärzt:innen sicherstellen und Gesundheitsinformationen vermitteln», sagt Christine Wegener. 

Gesundheit als Brücke zum Frieden (WHO)

Grundwerte der Pflege, wie Gerechtigkeit, Respekt, Gleichheit, Menschenrechte oder Mitgefühl, sind Grundlagen für den Frieden. Tedros A. Ghebreyesus, der Generaldirektor der WHO, sagte auf dem Höhepunkt der Pandemie, dass es keine Gesundheit ohne Frieden und keinen Frieden ohne Gesundheit gebe. Aufgrund der Bedeutung von Pflegefachpersonen als «Friedensdiplomat:innen und Friedensbildner:innen» hat die WHO bereits vor 26 Jahren das Programm «Health as a Bridge for Peace» (HBP) ins Leben gerufen, mit dem Ziel der Friedenskonsolidierung in sogenannten FCV-Ländern – Ländern, die besonders fragil (engl. fragile) und von Konflikten (conflict) und Gewalt (violation) gekennzeichnet sind (WHO, 2020). Zugrunde liegt der Health-for-Peace-Ansatz (Gesundheit für den Frieden).


Internationale Schulterschlüsse

Beispiele für länderübergreifende Schulterschlüsse für den Frieden sind der «Vertrag über die Verhinderung nuklearer Waffen» (Treaty on The Prohibition of Nuclear Weapon, TPNW) – er wurde von sechs überstaatlichen medizinischen Organisationen unterzeichnet, darunter dem ICN und dem Internationalen Roten Kreuz (ICRC et al., 2021) – und die Solidaritätskampagne #NursesForPeace. Diese wurde eine Woche nach dem Überfall Putins auf die Ukraine vom ICN lanciert, um ukrainische Pflegefachpersonen hinter der Frontlinie sowie in den Anrainerstaaten, die sich um die Geflüchteten kümmern, auf allen Ebenen zu unterstützen und sich für ein Ende der Kampfhandlungen einzusetzen.


Kranke im Spital sollen keinen Schaden nehmen (Florence Nightingale)

Die Pflegeprofession in ihrer ganzen Verantwortlichkeit zu begreifen, kann sogar bedeuten, sich gegen vorherrschende Traditionen und Praktiken, wie die weibliche Genital­beschneidung, oder ungerechte Vorgaben, wie die vorzugsweise Behandlung von gewinnbringenden Patient:innen, stellen zu müssen. Wie schwer es ist, Menschenrechtsverletzungen gegenüber Schutzbefohlenen in der Pflege zu beenden, die für die Heimbetreiber jedoch einträglich sind, musste die Whistleblowerin und Pädiatriepflegefachfrau Andrea Würtz erfahren. Als sie für das Gesundheitsamt arbeitete, hatte sie in einem Pflegeheim in Schliersee bei München nach einem Corona-Ausbruch im Jahre 2020 hinter den Zimmertüren Dutzende abgemagerte Menschen vorgefunden. 17 Menschen waren gestorben. In 88 weiteren Fällen wird wegen schwerer Körperverletzung ermittelt. Dieser Fall war für die 45-Jährige der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. 


Gemeinsam die Stimme erheben

«Ich habe als Pflegende in einem pädiatrischen Spital in Rheinland-Pfalz erlebt, wie ein bestimmter Prozentsatz an Neugeborenen von deren Müttern mit Schwangerschaftsdiabetes getrennt und das so wichtige Bonding nach der Geburt verhindert wurde, um bei den Babys unnötige medizinische Untersuchungen und Prozeduren durchzuführen», berichtet Andrea Würtz im Interview. «Obwohl alle wussten, dass diese Praxis wider besseres Wissen war und berufsethische Kodizes verletzte, wurde diese Überversorgung zum Schaden der Mütter und ihrer Kinder fortgeführt, allein mit dem Zweck, den wirtschaftlichen Fortbestand der Station zu rechtfertigen.» Heute setzt sie sich öffentlich gegen Missstände in der Pflege ein und sagt: «Wir müssen gemeinsam die Stimme erheben und tätig werden, wenn Schadensbegrenzung und gefährliche Pflege im Pflegealltag dominieren und wir noch nicht einmal mehr im Ansatz gute Pflege leisten können, nur weil Profitsucht über eine menschenwürdige Pflege gestellt wird.» «Wir waren in den letzten Jahrzehnten viel zu leise», sagt Christine Wegener. «Aus unserem hohen Verantwortungsbewusstsein und Mitgefühl für die Patient:innen und Kolleg:innen heraus haben wir viel zu viel ertragen.»
Ob es um die Einhaltung der Menschenrechte, um Prävention und Aufdeckung von Menschenhandel, Hilfe für vulnerable Bevölkerungsgruppen, die Linderung von Hunger und Armut oder um den Kampf für Umweltgerechtigkeit und internationalen Frieden geht (ICN 2021a): In der Pflegeprofession besteht auf pflegepraktischer, sozial-, berufs- und bildungspolitischer Ebene Handlungsbedarf.

Dieser Schwerpunkt erschien in der Ausgabe 5/2023 der Krankenpflege, der Fachzeitschrift des SBK.

11 Mal pro Jahr erscheint die dreisprachige Fachzeitschrift für die Pflege. Mitglieder des SBK erhalten sie frei haus. Andere Interessierte können die Fachzeitschrift abonnieren. Ein Jahresabonnement kostet 99 Franken.

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